Nicht nur die deutsche Außenpolitik, auch die Innenpolitik wird sich durch den Ukraine-Überfall des Gewaltfanatikers Wladimir Putin entscheidend verändern. 100 Milliarden Sondervermögen für die Verteidigung, mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Bundeswehr – so die klare Ansage von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in der Sondersitzung des Bundestages erstmals an einem Sonntag. Selten hat es eine so bedeutende, wohl historische Regierungserklärung eines Kanzlers gegeben, in Anwesenheit des ukrainischen Botschafters. Mit einer massiven Aufstockung der Verteidigungsausgaben war nach der Zeitenwende vom 24. Februar gerechnet worden, nicht aber mit der geplanten Verankerung des Sondervermögens im Grundgesetz. Scholz will damit bewußt CDU und CSU in Mitverantwortung nehmen, ohne die eine Verfassungsänderung nicht möglich ist.
„Wir erwarten, daß die Opposition die Bundesregierung unterstützt“, brachte es FDP-Chef Christian Lindner schließlich auf den Punkt. Fünf Monate nach ihrer katastrophalen Wahlniederlage ist die Union plötzlich wieder im Spiel, personell neu aufgestellt durch Oppositionschef Friedrich Merz (CDU). Weniger Streit in der Sicherheitspolitik wird es aber nicht zum Nulltarif geben. Die Bedingungen wurden bereits formuliert. Die Union will nicht anstelle der Grünen als bloßer Mehrheitsbeschaffer verantwortlich gemacht werden für unpopuläre Entscheidungen. Im Gegenzug will die FDP die Union nicht an deren Versäumnisse in der Merkel-Ära erinnern und Finanzminister Lindner nicht „Schuldenminister“ genannt werden. Denn Sondervermögen bedeutet eine weitere Neuverschuldung. Die Ampelkoalition hat sich damit von ihrem Ziel verabschiedet, im kommenden Jahr mit der „schwarzen Null“ einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen.
Wenig überzeugende AfD-Redner
Keine Zusammenarbeit zwischen Ampel und Union wird es in der Energiepolitik geben, der in Folge der gegen Rußland verhängten Wirtschaftssanktionen eine zentrale Bedeutung zukommt. Um die Abhängigkeit von russischem Erdgas zu verringern, plant die Koalition zwei Terminals für Flüssigerdgas (LNG) sowie eine Kohle- und Gasreserve. Die Grünen mußten ihren jahrelangen Widerstand aufgeben. Der Aufforderung von Merz, das Ausstiegsszenario für Atom- und Kohlestrom noch einmal zu überdenken, erteilte die Ampel dagegen eine Absage. Wohl um die Grünen zu beruhigen, verstieg sich Lindner zu der Behauptung, die Erneuerbaren Energien seien „Freiheitsenergien“.
SPD, Grüne und FDP, also die Ampel-Koalition, und die Unionsparteien wollen aufgrund der weltpolitischen Zäsur in Sicherheitsfragen stärker zusammenrücken. Ob dies (hoffentlich) dauerhaft gelingt, läßt sich derzeit noch nicht abschätzen. Jedenfalls haben ihre Spitzenpolitiker während der Sondersitzung unumwunden Fehler eingestanden. Ihr Versuch, den 1989 überwunden geglaubten Ost-West-Konflikt durch Handel, Zusammenarbeit und Friedensaktivitäten zu begradigen, ist gescheitert. Was selbst die Linkspartei zähneknirschend einräumen mußte, die aber die jetzt von der Koalition beschlossenen Waffenlieferungen an die Ukraine deutlich ablehnte.
In seiner Rede war AfD-Chef Tino Chrupalla nicht in der Lage, Mitgfühl für das von der russischen Armee überrannte ukrainische Volk auszudrücken. Von fehlender Solidarität zu schweigen. Stattdessen langatmige Ausführungen, um Rußland gegen Kritik in Schutz zu nehmen. Blamabel.
— Dieter Stein (@Dieter_Stein) February 27, 2022
Die Rede von Rüdiger Lucassen für die AfD legt den Finger in die Wunde einer völlig verfehlten Verteidigungspolitik und zeigt sachlich die verpaßten Chancen für eine Sicherheitsarchitektur, die Rußland einbezieht.
— Dieter Stein (@Dieter_Stein) February 27, 2022
Wie auch die in der Aussprache wenig überzeugende AfD, die es nicht fertig gebracht hat, ihr Mitgefühl für die Menschen in der Ukraine zu artikulieren. Eine gemeinsame Linie ihrer vier Redner — Fehlanzeige. Alexander Gauland schwieg, er behielt seinen historischen Sachverstand für sich. Die EU-Osterweiterung, mit der Putin sein Handeln rechtfertigt, wäre sein Thema gewesen. Vermutlich hätte der AfD-Ehrenvorsitzende der zutreffenden Einschätzung seines einstigen Parteifreundes Merz zugestimmt. Scholz müsse die Schwäche in Deutschland beseitigen. „Das ist die historische Herausforderung Ihrer Kanzlerschaft.“