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Ukraine-Krieg: Nation building à la russe

Ukraine-Krieg: Nation building à la russe

Ukraine-Krieg: Nation building à la russe

Russische Panzer auf dem Weg zur Front: Rußland treibt die Ukraine zum Westen Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com | Maximilian Clarke
Russische Panzer auf dem Weg zur Front: Rußland treibt die Ukraine zum Westen Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com | Maximilian Clarke
Russische Panzer auf dem Weg zur Front: Rußland treibt die Ukraine zum Westen Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com | Maximilian Clarke
Ukraine-Krieg
 

Nation building à la russe

Der Ukraine-Krieg dauert bereits einen Monat. Anfangs wurde Rußland überschätzt und die Ukraine unterschätzt. Dabei wird vergessen, daß die Ukrainer für ihr Land, ihre Nation kämpfen. Putin treibt das Land mit seiner Invasion dem Westen zu. Ein Kommentar.
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Unwort, Umfrage, Alternativ

Es scheint innerhalb der deutschen Rechten bislang nicht bis zum Letzten vorgedrungen zu sein, wie schlecht es um die russischen Truppen in der Ukraine bestellt ist. Die ukrainischen Angaben über gefallene russische Soldaten (zuletzt rund 15.000) haben sich zwar erwartungsgemäß als übertrieben erwiesen, allerdings nicht in jenem Maße, wie es sich einige erhofft hätten. Die Komsomolskaja Pravda, die regierungsfreundliche größte russische Tageszeitung, gab diese Woche, offenbar ungewollt, zu, daß bereits rund 10.000 Gefallene auf russischer Seite zu verzeichnen seien, und damit, daß die offiziellen Zahlen von etwa 500 Gefallenen stark untertrieben waren.

Eingedenk weiterer 20.000 bis 30.000 Verletzter müssen inzwischen, nach einem Monat Krieg, 15 bis 20 Prozent der in die Ukraine entsandten russischen Truppen kampfunfähig sein. Und während etwaige weitere Aushebungen in Rußland das Land unweigerlich in Richtung eines Bürgerkriegs treiben würden, verfügt die Ukraine über ein geradezu unbegrenztes Reservoir an Freiwilligen, die inzwischen bereit sind, für ihr Land zu töten und auch zu sterben.

Nicht nur die Kampfbereitschaft, sondern auch die Empörung der Ukrainer werden in der politischen Rechten Deutschlands zuweilen grob unterschätzt, da noch immer die Vorstellung von einem gespaltenen Land vorherrscht, dessen Bevölkerung sich etwa zur Hälfte mit Rußland identifiziere. Es ist gar nicht vonnöten, das Budapester Memorandum  von 1994 in Erinnerung zu rufen, mit dem die Ukraine ihre aus sowjetischen Beständen stammenden Atomwaffen an die Russische Föderation im Gegenzug für die Zusicherung der eigenen territorialen Integrität abtrat.

Putin wartete auf Trumps Abgang

Es reicht bereits, die politische Entwicklung der vergangenen Jahre zu betrachten, um zu erkennen, daß die Nostalgiker der schon zu Zeiten des Kalten Krieges völlig wirkungslosen Entspannungspolitik, welchen zufolge eine vermeintlich Aggression des Westens die russische Invasion erst herbeigeführt habe, völlig fehlgehen. Denn Wolodymyr Selenskij war der in der Stichwahl vom gesamten russischsprachigen Osten unterstützte Kandidat der Mitte, der eine weniger aggressive Ukrainisierungspolitik versprach als sein Amtsvorgänger Poroschenko und etwa den rein russischsprachigen staatlichen Fernsehkanal Dom ins Leben rief. Während der außenpolitische Weg zur Westbindung unter Selenskij fortgesetzt wurde, lebte es sich im Osten der Ukraine in den vergangenen drei Jahren weit angenehmer als von 2014 bis 2019.

Weit plausibler als die Theorie von der ständigen Provokation durch den Westen und ständig sich verschlechternden Bedingungen für die Ostukraine erscheint mithin die Annahme, daß Putin erst die Wahlniederlage Donald Trumps sowie eine allgemeine geistig-moralische Schwächung des Westens abwartete, um mit der Invasion der Ukraine zu beginnen. So ist die russische Invasion ein Schlag ins Gesicht besonders all jener, die Putin, wie auch der Verfasser selbst, in den vergangenen Jahren für einen kalt berechnenden Realpolitiker gehalten haben, der mit Konzessionen zu besänftigen sei.

Inzwischen müßte er, selbst wenn er den Krieg noch gewänne, zur Besiedlung einer etwaigen von der Russischen Föderation annektierten Ostukraine oder einer „Volksrepublik“ Kleinrußland Deportationen wie der Sowjetdiktator Josef Stalin vornehmen, nur in die entgegengesetzte Richtung: von Sibirien in den Westen des Imperiums. Denn selbst in nahezu rein russischsprachigen Städten wie Charkow, wo die Bevölkerung bis zuletzt zu 70 Prozent für Parteien stimmte, die einen Nato- oder EU-Beitritt ablehnten, wird sich kaum noch jemand mit Rußland identifizieren und in diese, zu großen Teilen von russischen Truppen zerstörten Gebiete zurückkehren wollen.

Putin treibt die Ukraine zum Westen

Die politischen Lager hielten sich in der Ukraine bis 2014 in etwa die Waage; es wechselten sich prorussische mit prowestlichen Regierungen ab. Die Russen waren sich dessen vollauf bewußt, daß die Ukraine seither keine prorussische Regierung mehr haben würde, da sie es jetzt selbst gewesen waren, die die Bevölkerung der prorussischsten Gebiete, der Krim und des Donezbeckens, der Teilnahmemöglichkeit an ukrainischen Wahlen beraubt hatten. Die Russen hatten damals zu wählen zwischen unsicherer, vom Ausgang demokratischer Wahlen abhängiger Neutralität der Ukraine und sicherem, weitgehend unblutigem territorialem Zugewinn, und entschieden sich für letzteren.

Was Samuel Huntington im Kampf der Kulturen vorhersagte, nämlich daß die Ukraine „in zwei separate Entitäten zerfallen“ würde, „deren östliche sich mit Rußland vereinigen“ würde, ist bereits 2014 eingetreten, wenn auch die von ihm erwähnte „fault line“ weit weniger westlich lag als erwartet und er die Möglichkeit des Individuums grade in bilingualen Grenzregionen unterschätzte, sich durch bewußte Entscheidung einer anderen „Kultur“ anzuschließen. Der Ukrainer, der zwischen zwei Kulturen steht, hatte seit jeher diese Möglichkeit, und spätestens seit dem 24. Februar diesen Jahres hat er ausgiebig Gebrauch von ihr gemacht.

Wladimir Putin war es mithin, der die (Rest-)Ukraine endgültig in den Westen trieb. Seit 2014 weiterhin eine Neutralität der Ukraine einzufordern, ist ebenso undiplomatisch wie die Demilitarisierung eines soeben militärisch attackierten Landes zu fordern, denn gerade ein solches wird derartige Bedingungen nicht akzeptieren können.

Ukrainer kämpfen für ihr Land

Auch die Begeisterung westlicher Liberaler wie Francis Fukuyama für die Ukraine sollte die hiesige Rechte nicht allzu sehr irritieren oder Zuflucht suchen lassen bei russischer, einerseits auf Altkommunisten, andererseits aber auf rechte Dissidenten, mithin auf eine veritable Querfront ausgerichteter Auslandspropaganda. Auch wenn Selenskij sich in seinen Reden vor westlichen Parlamenten an die hiesige Rhetorik anpaßt, tötet und stirbt doch kein einziger Ukrainer in diesen Tagen für die „Demokratie“; und auch die beharrliche Weigerung der Ukrainer, sich von nationalistischen Kämpfern in den eigenen Reihen zu distanzieren, wie es einige Linksliberale im Westen von ihnen bereits fordern, zeugt deutlich davon, daß die Ukrainer für ihr Land und nicht für den Universalismus kämpfen.

Es sind zudem grade die konservativen osteuropäischen Länder innerhalb der EU, die derzeit für Abschreckung statt für Entspannungspolitik plädieren. Und wer tschetschenische Söldner gegen slawische Soldaten einsetzt, sollte sich nicht als Verteidiger des Slawentums inszenieren; zumal dann nicht, wenn er ein Land attackiert, dessen Bevölkerung zu einem weit größeren Teil slawisch ist als die eigene.

Schließlich muß auch der Verlauf dieses Krieges der politischen Rechten Hoffnung einflößen; denn er zeigt unmißverständlich auf, daß militärtechnische Überlegenheit allein auch heute noch keinen Sieg im Felde zeitigen kann. Die allzeit oppositionelle parlamentarische Rechte in Deutschland täte besser daran, Bundeskanzler Olaf Scholz nicht etwa als „Kalten Krieger“, sondern vielmehr als das darzustellen, was er tatsächlich ist: nämlich der prorussischste Regierungschef Europas; was an der durch den Kernkraftausstieg herbeigeführten energiepolitischen Abhängigkeit vom Kreml liegt. Hat seine Regierung doch der teilweisen SWIFT-Abschaltung Rußlands als letzter EU-Staat zugestimmt, erst nach dem hierzulande jahrelang als Putinfreund beschimpften Viktor Orban.

Ukraine ist zum Nationalstaat geworden

Der ehemalige Offiziersanwärter Ferdinand Vogel hielt an dieser Stelle schon am 8. März fest: „In knapp zwei Wochen haben sich die russischen Streitkräfte selbst entzaubert.“ Tatsächlich: die Russische Föderation, vor dem Beginn der Invasion eine nur geringfügig größere Volkswirtschaft als Spanien, war auf dem geopolitischen Schachbrett ausschließlich als vermeintlicher militärischer Riese geachtet und gefürchtet.

Nun ist auch diese Illusion dahin. Sie hat sich als Koloß auf tönernen Füßen erwiesen – wie schon das Rußland vergangener Tage. Die Ukraine hingegen, die spätestens seit dem 17. Jahrhundert ein gespaltenes, wenn nicht gar aufgespaltenes Land war, ist seit dem Beginn der russischen Invasion endgültig zum Nationalstaat avanciert.

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Artur Abramovych, geboren 1996 in Charkow, lebt seit 1998 in Deutschland. 

Russische Panzer auf dem Weg zur Front: Rußland treibt die Ukraine zum Westen Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com | Maximilian Clarke
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