Wie ich aus eigenem Erleben weiß, haben sich die Sozialdemokraten seit einigen Jahren von einer politischen Partei zu einer Art säkularen Kirche gewandelt, in der Religionskritik mit Exkommunikation geahndet wird. Zunehmend ist in der SPD die politische Mitte von linken Ideologen so in die Ecke gedrängt worden, daß letztere faktisch die Macht übernommen haben. Sie halten sich Repräsentanten der politischen Mitte wie den Spitzenkandidaten Olaf Scholz als Lockvögel, um bürgerliche Wählerstimmen einzufangen.
Wenn es aber hart auf hart kommt, wird im Zweifel die Politik der Mitte der Ideologie geopfert. Das zeigte sich zuletzt, als der verteidigungspolitische Sprecher Fritz Felgentreu in der Auseinandersetzung um die Beschaffung von Drohnen für die Bundeswehr zurücktrat. Finanzminister Olaf Scholz und Außenminister Heiko Maas schwiegen dazu – sie sind in der täglichen Machtausübung längst zu Geiseln der Linken geworden.
Der so bewirkte Wackelkontakt im Wirklichkeitsbezug der Partei und die schwankende Machtbasis, auf der die Vernünftigen in ihr agieren, machen die SPD unzuverlässig und rauben ihr die Perspektive des gesunden Menschenverstandes. Soweit die Exponenten der Mitte noch Partei- oder Staatsämter innehaben, sind sie auf der Bundesebene und bei vielen Landesverbänden von linken Ideologen abhängig, für die weder Wahrheit noch Freiheit wirkliche Werte sind.
Olaf Scholz war wohl zu „rechts“
Das ist ein Stück weit dem nachgiebigen Opportunismus und dem Ämterhunger der „Vernünftigen“ zu verdanken. Im aktuellen Parteiprogramm der SPD, dem Hamburger Programm aus dem Jahr 2007, wird zwar der Kampf gegen den Rechtsextremismus gefordert, der Linksextremismus findet dagegen im gesamten Text keine Erwähnung. Schon vor 14 Jahren wollte also die Mehrheit der Funktionäre und Delegierten potentielle Bündnispartner im ganz linken Spektrum nicht vergrätzen. So war es nicht verwunderlich, daß der damalige Parteivorsitzende Kurt Beck ein Jahr später entnervt abtrat und sich nach Mainz zurückzog. Seitdem hat die SPD sechs weitere Vorsitzende erlebt.
Der jetzige Kanzlerkandidat Olaf Scholz hat es beim Mitgliederentscheid im Herbst 2019 nicht geschafft, den Parteivorsitz zu erringen. Er war der Mehrheit der Parteimitglieder offenbar zu „rechts“. Als Bundesfinanzminister sitzt er gegenwärtig am Feuerleitstand einer historisch beispiellosen Geldkanone, die er in der Corona-Pandemie auch energisch bedient.
Aber trotz schlaraffenlandmäßiger Begleitumstände der von ihm verantworteten Ausgabenpolitik und trotz großer persönlicher Popularität schafft Scholz es nicht, die Partei aus dem hartnäckigen Umfragetief zu führen. Gegenwärtig liegt sie bei 15 Prozent und wird bei der Bundestagswahl allenfalls wohl die dritte Kraft hinter den Grünen werden. In wichtigen Bundesländern wie in Bayern, Baden-Württemberg und Sachsen sind ihre Umfragewerte gegenwärtig gar einstellig. Bei der Bundestagswahl 1998 siegte ihr Kandidat Gerhard Schröder noch mit 40,9 Prozent der Stimmen, das zeigt das Ausmaß des Niedergangs.
In der Außen- und der Verteidigungspolitik, der Einwanderungs- und der Islampolitik ist die SPD in ihrem gegenwärtigen Zustand mehrheitlich weder willens noch in der Lage, verläßliche, realitätsbezogene und innerparteilich mehrheitsfähige Perspektiven zu entwickeln, auch wenn man sich in den nächsten Monaten bei der Formulierung des Wahlprogramms um entsprechende Brückenschläge bemühen wird. Den einen oder anderen Grenzwähler mag man damit vielleicht gewinnen, aber es wird nicht reichen, um wieder in der politischen Mitte mehrheitsfähig zu werden.
Die Brosamen, die vom politischen Tisch fallen
Die Union und die Grünen haben der SPD mittlerweile bei allen großen Zukunftsthemen entweder die Meinungsführerschaft oder das öffentliche Zutrauen in ausreichende Lösungskompetenz abgenommen. Seit jeher sind die deutschen Wähler mehrheitlich der Meinung, daß Unionspolitiker besser mit Geld umgehen könnten und auch die bessere Wirtschaftspolitik machten.
Durch die Entwicklung der Union hin zur linken Mitte hat sich auch der Kompetenzvorsprung der SPD bei Fragen der sozialen Gerechtigkeit aufgelöst, und ihr anhaltender Umverteilungseifer wirkt auf die Wähler der bürgerlichen Mitte eher abstoßend. Millionen dieser nehmen es der SPD zudem nachhaltig übel, daß sie seit Anfang der siebziger Jahre in den Bundesländern beim Niedergang des deutschen Bildungssystems – beginnend mit den hessischen Rahmenrichtlinien für Deutsch – ganz vorne mit dabei war. Überall in Deutschland sind die Pisa-Werte um so schlechter, je länger SPD-Kultusminister regiert haben.
Das Megathema der Gegenwart und zugleich die dominierende politische Modewelle ist die Frage der Nachhaltigkeit bei der Umweltpolitik insbesondere in bezug auf den Klimawandel. Hier ist der Kompetenzvorsprung der Grünen uneinholbar. Mit grünen Themen wurden sie in den letzten vierzig Jahren groß.
Der Union traut man immerhin zu, den Umweltelan mit wirtschaftlicher Vernunft zu versöhnen. Für die SPD dagegen bleiben hier nur die Brosamen, die vom politischen Tisch fallen, und das reicht allenfalls für eine Rolle als dritte Kraft. Soweit die Sozialdemokraten überhaupt noch eine bundesweite Perspektive haben, ist ihre Rolle als mehrheitsbeschaffender Juniorpartner für Jahrzehnte festgeschrieben – und vielleicht nicht einmal das.
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Dr. Thilo Sarrazin, Berliner Finanzsenator a.D., war von 1973 bis 2020 Mitglied der SPD.
JF 4/21