Sprache ist verräterisch. Vor Corona-Zeiten stand der englische Begriff „Lockdown“ für den Zelleneinschluß renitenter Sträflinge oder für die vorübergehende Abriegelung eines Terror- oder Katastrophenschauplatzes.
Die Leichtigkeit, mit der sich der Sprachgebrauch dieses Anglizismus in Richtung einer potentiell unbegrenzten prophylaktischen Dauer-Quarantäne und Stillegung ganzer Länder und Landstriche verschoben hat, sagt einiges darüber, wie Politiker neuerdings auf die Bürger als bloße Unterworfene ihres Handelns herabblicken.
In autoritären Staaten mag ein derartiger Umgang der Regierenden mit den Beherrschten weniger überraschen. In demokratisch verfaßten Republiken, in denen die Verfassungsgarantie von Grund- und Freiheitsrechten das Fundament des Gemeinwesens bildet, muß die massive mehrfache Suspendierung dieser Rechte sorgfältig begründet, von den demokratisch legitimierten Kontrollinstanzen strikt überwacht und laufend kritisch hinterfragt werden.
„Politiker lieben den Lockdown“
All das läßt der mit wechselnden Attributen versehene „Lockdown“ vermissen, den Kanzlerin und Ministerpräsidenten seit Monaten über Deutschland verhängen und mit wechselnden Ad-hoc-Rechtfertigungen wieder und wieder verlängern – angefangen damit, daß deren ins Zentrum des Geschehens gerücktes Exekutivgremium, das die Parlamente zu Beobachtern an der Seitenlinie degradiert, im Grundgesetz gar nicht vorgesehen ist.
Politiker lieben den Lockdown. Der De-facto-Ausnahmezustand von ungewisser Dauer ist die willkommene Handhabe, um im Rausch des Durchregierens ohne lästigen Widerspruch das zu tun, was Politikern von jeher am leichtesten fällt: anordnen, verbieten, Schulden machen und Geld verteilen, um dadurch neue Abhängigkeiten zu schaffen und bürokratische Machtpositionen auszubauen.
Der von Angst um das hohe Gut der Gesundheit eingeschüchterte Bürger läßt sich gefallen, daß staatliche Autorität sich anmaßt, mit Vorschriften und Verboten bis in die engsten und privatesten Lebensbereiche hineinzuregieren und per Federstrich über das wirtschaftliche Schicksal von Millionen zu verfügen.
Legitimationsdefizite treten offen zutage
Während die Regierung Lockdown an Lockdown reiht, stehen die Nachteile turmhoch. Tiefe seelische Schäden und für viele uneinbringbare Bildungsrückstände bei einer ganzen Generation von Kindern und Jugendlichen, vereinsamte Alte, mehr Herztote durch verschleppte Behandlungen, unterbliebene Vorsorgeuntersuchungen mit fatalen Spätfolgen, Meldungen über alarmierende Zunahme häuslicher Gewalt, zerstörte Existenzen, Suizidversuche, Orchestermusiker, die Ladenregale einräumen, Selbständige, die nach dem Verlust ihrer Lebensgrundlage in die Hilfebedürftigkeit abgleiten – die Indikatoren für tiefgreifende und vielfach schon irreparable Schäden im gesellschaftlichen und ökonomischen Gefüge mehren sich.
Zugleich treten die Legitimationsdefizite der Lockdown-Politik offen zutage. Die stereotype Berufung der politisch Verantwortlichen auf „die Wissenschaft“ wird zur Absurdität, wenn schon vor dem ersten Lockdown vor knapp einem Jahr der Bundesinnenminister handverlesene Wissenschaftler dazu aufforderte, ihm möglichst düstere Schreckensszenarien zu liefern, um damit harte Maßnahmen rechtfertigen zu können.
Politikschäden summieren sich von Woche zu Woche
Kaum weniger vertrauenerweckend wirkt, wenn bekannt wird, daß das Kanzleramt mit bestellten und eilig zusammengeschriebenen Gefälligkeitsstudien Druck für eine fortgesetzte Schließung der Schulen ausgeübt hat.
Während die wirtschaftlichen Schäden der Lockdown-Politik – zu schweigen von den menschlichen und gesellschaftlichen – von Woche zu Woche steigen und von Betroffenen, Fachleuten und Verbänden immer dringlicher vorgerechnet werden, ist der Nutzen fraglich. Schon die Parameter, an denen der Erfolg staatlicher Corona-Maßnahmen zu messen sein soll, sind politisch gesetzt und haben sich in den letzten zwölf Monaten laufend und unberechenbar geändert.
Erst sollte die „Verdoppelungszeit“ der Infektionszahlen gedämpft werden, dann die Reproduktionszahl („R-Wert“) und dann der „Inzidenzwert“, der binnen sieben Tagen auf hunderttausend Einwohner gemessenen „Fälle“, wobei gegen die Logik der angewandten Verfahren positiv Getestete mit „Infizierten“ gleichgesetzt werden.
Beweis für Effektivität des Lockdown bleibt aus
Als letzter Pfeil im Köcher muß jetzt das Auftreten vermeintlich gefährlicherer Varianten des Virus, offiziell bedrohlich als „Mutanten“ etikettiert, als Begründung für die weitere Verlängerung staatlicher Einschränkungen herhalten.
Es entsteht der Eindruck, daß der Ausnahmezustand zum Selbstzweck geworden ist, an den sich die politisch Verantwortlichen verzweifelt klammern. Die Politik bleibt den Beweis schuldig, daß der „Lockdown“ irgendeinen Effekt erzielt hätte, der nicht auch durch gezieltere und präzisere Maßnahmen zu erreichen gewesen wäre.
Mehr Eigenverantwortung tut not!
Anderes tut not: Eigenverantwortlicher Selbstschutz, Fürsorge für jene besonders gefährdeten Personen, die sich öffentlicher Obhut anvertraut haben, Aufrechterhaltung und Ertüchtigung der Gesundheits-Infrastruktur, Erforschung und Bereitstellung wirksamer Medikamente. Dabei müssen alle relevanten wissenschaftlichen und fachlichen Erkenntnisse berücksichtigt werden und nicht nur solche, die die eigene Agenda stützen.
Das ist anstrengender und verantwortungsvoller als Drohen und Schließen, Bestrafen und Verbieten. Aber es ist das, wofür in einem demokratischen Gemeinwesen die Bürger ihren politischen Repräsentanten Macht auf Zeit übertragen: zum Besten des Landes und seiner Menschen.
JF 7/21