Die Postkommunisten sind bei der Landtagswahl in Thüringen – nur dreißig Jahre nach dem Kollaps des Regimes, auf dessen Nährboden sie entstanden – zur stärksten Kraft geworden. Der Sieg der Linken wird von ihr ohne Umschweife als das bezeichnet, was er ist: ein linker Sieg, ein „Linksruck“. In Erfurt und Berlin gibt es zwar den einen oder anderen, der dieses Ergebnis unerfreulich findet, aber doch vor allem, weil die auchlinken Bündnispartner – Grüne und SPD – abgestraft wurden und die rot-rot-grüne Koalition nicht fortgesetzt werden kann.
Im Fokus der Debatte über die Wahlergebnisse steht das so wenig wie die Wahrscheinlichkeit einer vom amtierenden Ministerpräsidenten Bodo Ramelow geführten Minderheitsregierung. Denn ganz im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit findet man den neuerlichen Erfolg der AfD, die mit 23,4 Prozent der Stimmen zur zweitstärksten Fraktion geworden ist. Dagegen hat kein breites Volksfrontbündnis, das von der Union bis zur Linken, den Kirchen, Gewerkschaften und „zivilgesellschaftlichen“ Einflußnehmern reichte, irgend etwas ausrichten können. Also ist man enttäuscht vom Bürger, der sein Kreuz an der falschen Stelle machte, und erklärt die Alternative, aber vor allem deren Landesvorsitzenden, zum Paria.
Tabuierung all dessen, was „rechts“ ist
Der Tagesschau-Kommentatorin Tina Hassel war es jedenfalls eine sichtbare Genugtuung, festzustellen, daß man Höcke mit richterlicher Erlaubnis als „Faschisten“ bezeichnen darf. Dem Zuschauer blieb überlassen, daraus die notwendigen Folgerungen zu ziehen. Welche das sind, ist klar: Wer mit einem Faschisten umgeht, ist selbst ein Faschist, und Faschismus ist keine Weltanschauung, sondern eine geistige Verirrung, wahrscheinlich ein Verbrechen, oder doch die Vorstufe dazu.
Der Rechtsruck in Thüringen bietet also wieder die Möglichkeit, „Courage“ oder „Gesicht zu zeigen“ oder den „Aufstand der Anständigen“ zu organisieren. Man darf bezweifeln, daß das vor Ort besondere Wirkung zeigt, aber auf nationaler Ebene greifen schon die Mechanismen, die seit fünfzig Jahren erprobt sind, wenn es darum geht, irgendeine Bewegung rechts der Mitte niederzuhalten.
Man muß diese zeitliche Markierung betonen. Denn entgegen einer verbreiteten Auffassung ist die Tabuierung all dessen, was „rechts“ ist, keine Folge von Hitler usw. Hier handelt es sich vielmehr um eine Verschiebung, die erst mit gehörigem zeitlichem Abstand zu Niederlage und Zusammenbruch griff. Bezeichnend jedenfalls, daß schon im Frühsommer 1945 ein Manifest der Rechten veröffentlicht wurde, das dann die von den britischen Besatzungsbehörden zugelassene „Deutsche Rechtspartei – Konservative Vereinigung“ (DRP) als Programm übernahm.
„Macht den rechten Flügel stark!“
Die Kernthese des Manifests war, daß sich das Ende von Weimar und der Aufstieg des Nationalsozialismus nur aus den Gesetzmäßigkeiten einer Massengesellschaft erklären ließen, die der Überlieferung und der Würde des Einzelnen keine Bedeutung mehr beimaß. Dagegen wurde die abendländische Tradition gesetzt, sogar über die Wiederherstellung der Monarchie dachte man nach. Vorstellungen, die damals durchaus auf Resonanz rechnen konnten. In der Zeit etwa, die auf der Linken als ausgesprochen „rechtsgerichtete Wochenschrift“ galt.
Aber die DRP hatte so wenig Erfolg wie die kurzlebige „Nationale Rechte“, eine Abspaltung der FDP. Die Freien Demokraten bezogen auf Grund ihres nationalliberalen Profils aber selbstverständlich den rechten Flügel des Bundestages. Dort saßen ihre Abgeordneten neben denen der „Deutschen Partei“ (DP). Die koalierte im Bund wie im Land Niedersachsen mit der CDU und stellte in Hannover zwischen 1955 und 1959 den Ministerpräsidenten. Der hieß Heinrich Hellwege und gab die Parole aus „Macht den rechten Flügel stark!“; auf Plakaten der DP stand der Slogan „Wer rechts wählt, recht wählt!“
In dieser Zeit wuchs auf seiten von CDU und CSU zum ersten Mal die Sorge, daß man die rechte Flanke ungedeckt lasse, was einer Neugründung im „nationalen Lager“ Auftrieb verschaffen könnte. Aber dazu kam es nicht. Auch die DP verschwand von der Bildfläche, ihre Anhängerschaft wurde von der Union aufgesogen, pflegte das Einzelgängertum der „heimatlosen Rechten“ (Karl O. Paetel) oder probierte es mit irgendwelchen Neugründungen, die keine Aussicht auf Erfolg hatten.
Gereiztheit der Etablierten
Daß es dabei bis zum Auftreten der AfD bleiben sollte, hatte nicht nur mit hausgemachten Schwierigkeiten, unzulänglichem Personal und der Massivität des Drucks von außen zu tun, sondern auch mit der Plausibilität, die aus der Sicht von Herrn und Frau Jedermann für das schwammige Zentrum oder die selbstbewußte Linken sprach. Denn die windstillen Jahrzehnte zwischen Mauerbau und Untergang des Sowjetblocks erlaubten die Illusion, daß man es im Grunde nur noch mit ein paar sozialen Problemen zu tun habe, die guter Wille, laissez-faire und Umverteilung regulieren würden. Die Realität des Politischen mit ihrer Härte, ihrer Kälte und den Erfordernissen der Machtbewahrung schien zu verdunsten.
Die Etablierten haben sich in dieser Phase der Entwicklung etabliert. Und wenn sie es nicht wissen, dann ahnen sie doch, daß ihre guten Zeiten vorbei sind. Weder Training noch Gewieftheit noch Netzwerke noch Verfügung über gigantische Geldmittel werden auf die Dauer genügen, um sie oben zu halten. Das erklärt ihre Gereiztheit und Entschlossenheit, wenn nicht die letzte, dann doch die vorletzte Konsequenz aus jenem „Freund-Feind-Denken“ zu ziehen, das sie so gerne der Rechten zuschreiben.
Die zeigen sie der Anhängerschaft und den Tumben immer als monolithischen Block. Ein alter Kniff, der die Bekämpfung erleichtert und die Frage im Keim erstickt, welche tiefere Ursache das Auftreten der Konkurrenz haben könnte. Aber selbstverständlich ist die Rechte ein Phantom. Es geht um durchaus verschiedene Strömungen, die sich in manchem berühren und in vielem geschieden sind. Welche davon letztlich das Feld behauptet, ist keineswegs ausgemacht. Wenn es gut läuft, dann diejenige, die Ernst Jüngers Fahnenspruch folgt: „Erwachen und Tapferkeit!“