In seiner Rede zur Lage der Europäischen Union am 13. September 2017 hatte der Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, die Segel für einen neuen europäischen Aufbruch gesetzt, einen Aufbruch in seinem Sinne. Die Winde seien gerade günstig. Zwei Tage nach der Bundestagswahl, am 24. September, sagt uns der französische Staatspräsident, Emmanuel Macron, in einer Grundsatzrede, wohin die Winde das europäische Schiff bringen sollen.
Er wolle ein souveränes Europa – in Wirklichkeit ist es ein zentralisiertes Europa, in dem Frankreich das Steuerruder in der Hand hält. Das ist mit Sicherheit zwischen Juncker und Macron abgesprochen worden. Juncker spielt die französische Karte. Er will ebenfalls Zentralisierung und die Sozialunion.
Wenn man Macrons Rede genau analysiert, kann man ihren Entstehungsprozeß nachvollziehen. Erst fordert der Staatspräsident seine Mitarbeiter und alle, die mit Europa zu tun haben, auf, Beiträge zu liefern. Sie werden gebündelt und strukturiert. Die politische Steuerung des Integrationsprozesses wird sorgfältig herausgearbeitet. Der Text wird in europäische Rhetorik gekleidet. Macron wählt einen würdigen Rahmen, die Sorbonne-Universität, und trägt seine Rede mit französischem Pathos vor Menschen vor, die in diesem Europa leben sollen.
Macrons eigentliches Ziel ist die Haftungsgemeinschaft
Sein Entwurf eines souveränen Europas erinnert an die Lissabon-Strategie der europäischen Staats- und Regierungschefs vom März des Jahres 2000, welche die EU innerhalb von zehn Jahren zur wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Region in der Welt machen sollte. Das Gegenteil ist eingetreten. Macrons Europa-Entwurf wird es nicht anders ergehen. Das ist aber nebensächlich. Macrons eigentliches Ziel ist der endgültige Ausbau der Währungsunion zu einer Haftungsgemeinschaft.
Anfang September beschwor er in Athen die demokratische Tradition Europas. Er geißelte den politischen Umgang mit dem griechischen Volk. Den jungen Griechen sei versprochen worden, die ihrem Land aufgezwungenen Sparmaßnahmen würden bald ihr Leben verbessern. Was erlebten sie heute – Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit. Ein solches Europa wolle niemand.
Macron klagt damit die Gläubigerländer an, insbesondere Angela Merkel und Wolfgang Schäuble. Seine Rede vom 26. September zeichnet ein Europa, in dem nicht mehr die Bereitschaft der Regierungen der Gläubigerstaaten, ihre Taschen zu öffnen oder verschlossen zu halten, über das Schicksal von Ländern entscheidet, sondern ein europäischer Finanzminister. Dieser muß aber auch über reichliche Mittel verfügen. Ansonsten könnte man sich die Sache sparen.
Ein Finanzministerium als Drainage
Merkel, Schäuble ebenso wie die Grünen und Noch-SPD-Chef Martin Schulz haben sich bereits positiv zur Institution eines europäischen Finanzministers gestellt, wobei sie sich Unterschiedliches darunter vorstellen. Was sollte dieser tun? Kann er in die Budgetgestaltung der Mitgliedstaaten eingreifen? Kann er nicht; das Budgetrecht ist das vornehmste Recht eines demokratisch gewählten Parlaments. Eine haushaltspolitische Entmachtung wäre das Ende der Demokratie. Kann er Vorschläge machen, wie die nationalen Parlamente verfahren sollen?
Ja, kann er. Halten sich die angesprochenen Regierungen und Parlamente daran? Nein, haben sie bisher nicht getan und werden es auch in Zukunft nicht tun. Kann er in Absprache mit dem Rat der Wirtschafts- und Finanzminister Sanktionen aussprechen? Möglich. Würden sich die Betroffenen hiervon beeindrucken lassen? Nein – bisher sind Sanktionen noch nie vollstreckt worden.
Die eigentliche Aufgabe eines europäischen Finanzministers wäre also zu verhüten, daß in einzelnen Ländern sich anbahnende Krisen die gesamte Währungsunion erfassen. Er wäre in Wirklichkeit eine Art Feuerwehr, die aber über genügend finanzielle Mittel verfügen müßte, um wirkungsvoll präventiv wirken zu können. In der Praxis läuft also Macrons Vorschlag auf eine Drainage hinaus, die Steuermittel in notleidende Staaten pumpt. Um hierauf zu kommen, muß man nicht Hellseher sein.
Merkel verantwortet dieses Dilemma
Daher werden die angesprochenen Regierungen hinhaltend auf Macrons Vorschlag reagieren, werden aber nicht als kleinliche Europäer dastehen wollen. Sie werden finanzielle Mittel in homöopathischen Dosen zusagen. Wenn es wirklich irgendwo brennt und die Eurozone zusammengehalten werden soll, wird man indes mehr brauchen. Wenn die Unauflöslichkeit der Währungsunion beschlossene Sache ist, werden die potentiellen Geberländer nicht nein sagen können.
Nur die wenigsten wissen, daß die Bundeskanzlerin dieses Dilemma zu verantworten hat. Erinnern wir uns: Im Juli 2015 stand die Währungsunion vor einer Weichenstellung. Es ging um die weitere Finanzierung Griechenlands. In der Euro-Gruppe hatten sich fünfzehn Mitgliedstaaten unter Führung Wolfgang Schäubles gegen eine weitere Kreditierung Griechenlands ausgesprochen – dann hätte Griechenland aus der Eurozone ausscheiden müssen. Vier Staaten – Griechenland, Zypern, Italien und Frankreich – waren dagegen. Daraufhin fuhr der damalige französische Staatspräsident, François Hollande, zu Angela Merkel. Sie hat sich überzeugen lassen, daß Griechenland Mitglied der Eurozone bleiben müsse.
Inzwischen hat Wolfgang Schäuble seinen Frieden mit dieser Entscheidung gemacht. François Hollande hat im Frühjahr 2017 auf die Frage, ob ihm das Einschwenken Schäubles auf seine Linie Genugtuung verschaffe, geantwortet: Ja, es freue ihn, daß sich die europäische Idee durchgesetzt habe, aber deswegen müsse er doch nicht „kikeriki“ krähen. Wir können sicher sein, auch Macron wird nicht lauthals „kikeriki“ rufen, wenn sich die Staats- und Regierungschefs auf seinen Kurs geeinigt haben.
JF 41/17