Herr Kühn, als Sie morgens geweckt wurden …
Detflef Kühn: … da stand die „Mauer“. Auch wenn die erste Sperranlage noch nicht aus Beton, sondern mehr oder weniger aus Stacheldraht bestand, begann das, was die Mauer ausmachte an diesem Sonntagmorgen des 13. August 1961.
Geweckt hatte Sie Ihr Vater.
Kühn: „Detlef! Die haben den Ostsektor abgeriegelt!“ Natürlich fuhr ich zur Sektorengrenze, an der Friedrichstraße, um mir das selbst anzusehen. Und da standen sie: Bewaffnete Polizisten, Soldaten und Angehörige der Betriebskampfgruppen mit gepanzerten Fahrzeugen.
Wie war die Stimmung?
Kühn: Bedrückt, absolut bedrückt.
Nicht aufgeheizt von Wut und Ärger?
Kühn: Wut und Ärger schon, aber nicht in Form militanten Protests, sondern eher stiller Verzweiflung.
Und auf der anderen Seite?
Kühn: Da waren schon keine Zivilisten mehr zu sehen, weil das Gebiet abgesperrt war. Nur in den Fenstern der angrenzenden Häuser konnte ich Menschen erkennen, die ihre Einschließung ebenso hilflos und verzweifelt beobachten wie wir. Da wurde mir klar, daß unter der „Mauer“, die da entstand, alle Hoffnungen, die man zunächst noch hatte – die Teilung Deutschlands sei nur ein vorübergehendes Nachkriegsphänomen –, begraben wurden. Was in mir – Sie müssen bedenken, ich kam aus einem national gesinnten Haushalt – schiere Verzweiflung auslöste. Man war machtlos!
Kühn: „Von Anfang an war mir klar, daß ich dagegen kämpfen werde!“
Und dann?
Kühn: Dann kam der Montag – und das Leben ging weiter. Natürlich lag zunächst über allem ein bedrückender Schatten. Aber Tage vergingen, Wochen, Monate – und zwangsläufig setzte Gewöhnung ein. Aus den Monaten wurden Jahre und aus den Jahren Jahrzehnte, und junge Deutsche wuchsen in die Teilung ihrer Nation hinein, als sei sie selbstverständlich.
Das wollten Sie nicht hinnehmen?
Kühn: Nein, nie! Von Anfang an war mir klar, daß ich dagegen kämpfen würde. Was ich im Grunde schon als studentischer Fremdenführer im geteilten Berlin getan habe, indem ich bei den Führungen immer wieder die Absurditäten der Teilung vor Augen führte. 1964 trat ich dann in die FDP ein, weil sie mir damals als die Partei erschien, die sich am entschiedensten gegen die Teilung und für die nationale Einheit der Deutschen einsetzte.
Das war nicht die CDU?
Kühn: Alle Parteien waren damals gegen die Teilung und für eine Wiedervereinigung – außer den Kommunisten, die zur SED hielten. Doch die damals führenden Köpfe der FDP, Thomas Dehler und Erich Mende, sprachen das Problem der Teilung öfter und entschiedener an, während Politiker anderer Parteien zurückhaltender waren. Bis zum Mauerfall hielten auch alle Parteien – später vielleicht mit Ausnahme der Grünen – zumindest offiziell an der Wiedervereinigung fest, allerdings durchaus mit unterschiedlicher Intensität.
„Die SPD war fast noch nationaler als die CDU“
Zum Beispiel?
Kühn: Nehmen Sie die sogenannte Stalinnote von 1952, ein Angebot des roten Diktators, die Wiedervereinigung Deutschlands zu gestatten, wenn dieses dafür blockfrei würde, also wie Österreich neutral und keinem militärischen Bündnis angehörig. Ob das ein ernst gemeintes Angebot war oder nur eine Finte, war zwar unklar, aber vor allem die FDP und auch etliche Politiker in CDU und SPD meinten, man müsse das Angebot „ausloten“, wie man damals sagte.
Doch Kanzler Konrad Adenauer lehnte es ab, weil er nicht bereit war, die Westbindung der Bundesrepublik für die Einheit Deutschlands aufzugeben. Übrigens reute es Thomas Dehler später, daß er damals nicht demonstrativ von seinem Amt als Bundesjustizminister zurückgetreten sei, aus Protest gegen Adenauers Hinweggehen über diese mögliche Chance zur deutschen Einheit.
Apropos deutsche Einheit: Was war denn mit dem deutschen Osten?
Kühn: Auch wenn wir es nicht wahrhaben wollten, war damals schon weitgehend klar, daß keine Aussicht mehr bestand, unsere Ostgebiete, aus denen die Deutschen ja bereits vertrieben waren, zurückzuerlangen. Allerdings stellten die Rechtsansprüche auf den Osten des Reichs eine Art politisches Faustpfand dar, auf das damals niemand verzichten wollte.
Doch als ich 1966 nach Bonn zog und wissenschaftlicher Mitarbeiter der FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag wurde, war alles worauf wir realpolitisch noch hinarbeiten konnten, eine Wiedervereinigung mit der Ostzone. Allerdings wurde das unheilvolle Wirken der Teilung von Jahr zu Jahr spürbarer, dergestalt, daß das Interesse an der Wiedervereinigung in der Bundesrepublik immer weiter einzuschlafen drohte.
Vorausschauend hatte immerhin der Minister für innerdeutsche Angelegenheiten Herbert Wehner bereits 1968 veranlaßt, eine staatliche Einrichtung zu gründen, die durch Bildungsarbeit den Gedanken der deutschen Einheit wachhalten sollte.
Wehner war doch Ex-Kommunist und Sozialdemokrat.
Kühn: Sie vergessen, daß die SPD damals unter ihrem patriotisch gesinnten Vorsitzenden Kurt Schumacher fast nationaler war als die CDU. Und zu diesen alten Sozialdemokraten, denen die deutsche Nation noch etwas bedeutete, gehörte Wehner, ebenso wie etwa Willy Brandt oder der Berliner Regierende Bürgermeister Ernst Reuter.
Vor allem in Berlin waren alle politischen Kräfte, wenn auch in unterschiedlicher Intensität, bemüht, die Folgen der Teilung zu mildern und letztere möglichst zu beseitigen. Doch mit der zunehmenden Wohlstandsverwöhnung ließ das Bemühen darum in allen Parteien nach, auch in meiner FDP.
„Gefahr eine sukzessiven stillschweigenden Anerkennung der deutschen Teilung“
1972 übernahmen Sie die Führung des von Wehner ins Leben gerufenen „Gesamtdeutschen Instituts. Bundesanstalt für gesamtdeutsche Aufgaben“.
Kühn: Ja, und mit drei Abteilungen in Bonn und einer in Berlin hatte es zu Beginn 250 Hauptamtliche und etwa 500 Honorarkräfte in Dienst. Seine Hauptaufgabe war deutschlandpolitische Bildungsarbeit, mit dem Ziel, „das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen in Ost und West durch Informationsvermittlung zu stärken“. Mir war klar, daß wir dafür vor allem auf die junge Generation zielen mußten, denn bei den Älteren war eine positive Einstellung zur Wiedervereinigung überwiegend vorhanden, und das ja bis zum Mauerfall 1989 und ihrer Erreichung 1990.
Warum war das so? Weil die Älteren noch die Zeit eines gemeinsamen Deutschlands erlebt hatten. Sollte auch bei der Jugend ein solches Empfinden für die Einheit der Nation entstehen, so mußte sie auch die DDR als Teil des gesamten Deutschlands erleben, unter anderem durch Besuche und Begegnungen. Denn inzwischen fühlten sich junge Westdeutsche mehr in Frankreich und Italien zu Hause als in Sachsen, Thüringen oder der Mark Brandenburg.
Also setzten wir in den Schulen an, warben dafür, daß Lehrer das Thema im Unterricht behandelten, vor allem aber, daß sie Klassenfahrten in die DDR unternahmen, was es anfangs so gut wie gar nicht gab. So haben noch 1980 nur drei Klassen, etwa achtzig Schüler, eine solche Reise unternommen – das muß man sich einmal vorstellen! –, während es uns gelang, die Zahl bis 1989, also im Jahr des Mauerfalls, auf 100.000 im Jahr zu steigern.
Hatten Sie dabei noch die volle Unterstützung des Ministeriums?
Kühn: Na ja, da das Institut aus dem Bundeshaushalt finanziert wurde, also nicht direkt vom Ministerium, mußte ich dort nicht um Geld bitten. Allerdings war der Minister mein Vorgesetzter. Und sagen wir es so, man drängte mich nicht gerade zur Erfüllung dieser Aufgabe.
Warum?
Kühn: Das Problem war, daß die Bundesrepublik inzwischen offizielle Beziehungen – in Form der „Ständigen Vertretungen“ – zur DDR aufgenommen hatte. Und die SED störte sich daran, daß ich als Präsident des Instituts bei der Förderung von Reisen in die DDR immer das Ziel der staatlichen Einheit ansprach. In der Bundesregierung war man aber geneigt, im Interesse besserer Beziehungen verbale Konzessionen zu machen. Das führte zu der bizarren Situation, daß man offiziell an der deutschen Einheit festhielt, eigentlich aber über das Thema nicht mehr sprechen wollte.
Zweifellos war es wichtig, Erleichterungen für die Deutschen in der DDR zu erreichen und dazu die innerdeutschen Beziehungen zu verbessern, aber zunehmend ließ man sich auf die Strategie der SED ein, Erleichterungen zu gewähren im Tausch gegen eine sukzessive stillschweigende Anerkennung der Teilung als quasi endgültig.
„Wer es mit der deutschen Einheit ernst meinte, der erregte Kohls Zorn“
Wie äußerte sich das Ihnen gegenüber?
Kühn: Zum Beispiel rief mich Dorothee Wilms, seit 1987 Ministerin für innerdeutsche Angelegenheiten, also meine Chefin, zu sich: „Herr Kühn, ich habe mit Ihnen ein Problem.“ „Frau Minister, das tut mir leid – was ist das für ein Problem?“ „Sie werden mir vorgehalten.“ „Wieso denn das?“ „Immer öfter kommt es vor, daß man mir sagt: Ihr Herr Kühn, der spricht unentwegt von der Wiedervereinigung – warum tun Sie das nicht auch?“
Am liebsten hätte ich geantwortet: Ja eben, warum eigentlich nicht? Aber das konnte ich natürlich nicht, also sagte ich: „Das verstehe ich nicht: Wir sind doch beide für die Wiedervereinigung!“ „Ja, natürlich!“, antwortete sie. „Wo liegt dann das Problem?“ fragte ich. Sie konnte es mir nicht erklären. Die Wahrheit war natürlich: Es war Helmut Kohl, dessen Unmut ich erregt hatte.
Helmut Kohl, der spätere „Kanzler der Einheit“!?
Kühn: Eben, der „spätere“. Das ist die traurige Wahrheit, noch unter SPD-Kanzler Helmut Schmidt genoß unsere Arbeit für die deutsche Einheit volle Unterstützung. Das änderte sich erst 1982 ausgerechnet unter der CDU! Natürlich hielt Kohl offiziell an der Einheit fest, tatsächlich aber erfuhr, wer damit Ernst machen wollte, seinen Zorn. Ich ebenso wie etwa der engagierte FAZ-Journalist Karl Feldmeyer oder der CDU-Bundestagsabgeordnete Bernhard Friedmann, der 1987 in seinem Buch „Einheit statt Raketen“ eine aktive Wiedervereinigungspolitik statt Nachrüstung vorschlug, und etliche andere.
Kohl regierte allerdings nicht alleine, sondern gemeinsam mit der FDP unter Hans-Dietrich Genscher, Ihrem ehemaligen Chef, erst in der Fraktion, dann im Bundesinnenministerium.
Kühn: Ja, doch 1982 war das schon zehn Jahre her. Dennoch schrieb ich Genscher natürlich ab und zu Briefe, in denen ich ihm vorschlug, deutschlandpolitisch im Sinne der Wiedervereinigung Akzente zu setzen. Er antwortete, daß er darüber nachdenken werde. Doch unternommen hat er meines Wissens nach – zumindest bis zum Mauerfall – nichts.
„Das Wiedervereinigungsgebot unseres Grundgesetzes wurde ignoriert“
Warum haben Kohl und Genscher die Einheit verraten?
Kühn: Sie haben sie nicht verraten, denn sie haben ihr ja nie öffentlich abgeschworen und für Sonntagsreden zum „Tag der deutschen Einheit“ am 17. Juni war sie ja noch gut. Tatsächlich jedoch hätten sie eine Art „Österreich-Lösung“ für die DDR akzeptiert.
Aber die damalige Präambel des Grundgesetzes verpflichtete dazu, die Wiedervereinigung zu verfolgen.
Kühn: Eben! Und dieses Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes haben sie zwar nicht preisgegeben, aber weitgehend ignoriert. Warum? Zumindest für Genscher kann ich sagen, weil er resigniert hatte. Innerlich war er ein Anhänger eines geeinten Deutschlands, glaubte aber, zu seiner Lebzeit dieses nicht mehr zu erleben. Doch im Frühjahr 1989 traf ich ihn nach langer Zeit zufällig auf einer Einladung wieder. „Herr Kühn“, sprach er mich an, „wir müssen reden!“ Er nahm mich beiseite und sagte: „Jetzt glaube ich, daß ich die Wiedervereinigung doch noch erleben werde!“
Ist es nicht geradezu zynisch vom Schicksal, daß ausgerechnet diesen beiden Opportunisten der Mauerfall mit der Einheit zur Krönung ihrer Karrieren verhalf?
Kühn: Aber trotzdem bin ich dem Schicksal sehr dankbar! Wobei das Hauptverdienst den Deutschen in der DDR zukommt. Überhaupt war immer mein Eindruck, daß sie mehrheitlich nationalbewußter im traditionellen Sinne waren, als die Deutschen im Westen, von denen viele nur noch Europäer oder Weltbürger sein wollten. Insofern wundert mich auch nicht, daß etwa die AfD vor allem in den ehemaligen DDR-Ländern großen Erfolg hat.
„Als ich erwachte, wurde der Traum von der deutschen Einheit Wahrheit“
Wie haben Sie den Mauerfall erlebt?
Kühn: Ich wurde einmal gefragt, wie lange die Mauer noch stehe. Ich antwortete: „Solange es die DDR gibt.“ Was ich damit sagen wollte: Der SED-Staat kann ohne die Mauer nicht existieren. Am Abend des 9. November 1989 ging ich früh zu Bett, weil ich eine sehr anstrengende medizinische Untersuchung hinter mir hatte. Ich sah aber noch die Fernsehnachrichten und wie SED-Politbüromitglied Günter Schabowski – versehentlich, wie wir heute wissen – die neue Ausreiseregelung in Kraft setzte. Ich sagte noch zu meiner Frau, sollten die damit wirklich Ernst machen, überlebt die DDR das nicht. Dann ging ich zu Bett.
So habe ich die Nacht des Mauerfalls leider verschlafen. Am nächsten Morgen weckte mich ein Anruf Verwandter aus den USA, die uns begeistert gratulierten: „Congratulation to unification!“, womit sie die Wiedervereinigung schon vorausnahmen. Und so wie die Mauer damals, an jenem Sonntagmorgen 1961, als ich erwachte, plötzlich da war, so war sie nun, 28 Jahre später, als ich aufwachte verschwunden – und der Traum von der deutschen Einheit wurde Wahrheit.
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Detlef Kühn war ab 1966 Mitarbeiter der vom Parlamentarischen Geschäftsführer Hans-Dietrich Genscher organisierten FDP-Bundestagsfraktion, zuständig für Außen-, Verteidigungs- und Deutschlandpolitik. Als Genscher 1969 das Innenministerium übernahm, wechselte Kühn mit ihm. 1972 berief man den 1936 in Potsdam geborenen Juristen zum Präsidenten des „Gesamtdeutschen Instituts. Bundesanstalt für gesamtdeutsche Aufgaben“, das er bis zu dessen Auflösung 1991 führte.