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150 Jahre Reichsgründung: Kein Kranz nirgends

150 Jahre Reichsgründung: Kein Kranz nirgends

150 Jahre Reichsgründung: Kein Kranz nirgends

Gedenk-Briefmarke zur hundertjährigen Reichsgründung 1971 Foto: JF/vo
150 Jahre Reichsgründung
 

Kein Kranz nirgends

Die Reichsgründung von 1871 ist aus dem kollektiven Gedächtnis der Deutschen weitgehend verschwunden. Kein Wunder, daß den Regierenden nicht der Sinn nach einer offiziellen Gedenkfeier anläßlich des 150. Jahrestags steht. Doch das Jubiläum wurde nicht immer so stiefmütterlich behandelt.
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Für die Mehrheit in der Bevölkerung der Bundesrepublik, bemerkte der Historiker Tobias Hirschmüller kürzlich, sei der Prozeß der Reichsgründung „mittlerweile entweder im kollektiven Gedächtnis nicht mehr präsent“ oder besitze „als identitätsstiftender Faktor keine Relevanz mehr“. Und in der Tat findet außerhalb von studentischen Verbindungen, wo die Feier von „Reichsgründungskommersen“ auch jenseits runder Jubiläen noch nicht ganz aus der Mode gekommen ist, ein Erinnern an das historische Datum 18. Januar 1871 fast nirgendwo mehr statt.

Zumindest für die Bundesregierung und eine überwiegende Mehrheit im politischen Berlin trifft dies so zu. Gefragt, ob die Bundeskanzlerin in irgendeiner offiziellen Form zu würdigen gedenkt, daß die Deutschen vor 150 Jahren zum ersten Mal in einem gemeinsamen Staat unter einer Verfassung zusammenlebten, verwies der Regierungssprecher vergangene Woche auf die Zuständigkeit der Staatsministerin für Kultur und Medien. Monika Grütters’ Ressort unterstütze beispielsweise „eine Onlinetagung der Arbeitsgemeinschaft ‘Orte der Demokratiegeschichte’ unter dem Titel ‘Einigkeit und Recht – doch Freiheit? 150 Jahre Kaiserreich’“. Desweiteren „befördert die Kulturstaatsministerin eine Sonderausstellung der Otto-von-Bismarck-Stiftung mit dem Titel ‘18.  Januar 1871 – Kaiserproklamation in Versailles’“.

Auf die Nachfrage, ob denn außer der Förderung von Fachgesprächen oder Ausstellung auch eine protokollarische Würdigung durch die Bundesregierung vorgesehen sei, konnte Regierungssprecher Steffen Seibert lediglich noch auf Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier verweisen, der eine Historiker-Runde zum Austausch ins Schloß Bellevue geladen hat.

„Zweimal Versailles, einmal Stalingrad“

Das Staatsoberhaupt meinte in seiner einleitenden Ansprache, „nach einer nationalen Feier der Reichsgründung verlangt heute niemand“. Denn: „Wir Deutschen stehen dem Kaiserreich heute so beziehungslos gegenüber wie den Denkmalen und Statuen von Königen, Kaisern und Feldherren aus dieser Epoche.“ Steinmeier hatte bereits im vergangenen Jahr in einer Rede zum 30. Jahrestag der deutschen Einheit sein Traditionsverständnis so verdeutlicht: „Wir berufen uns auf die Ideen des Hambacher Festes, der Paulskirche, der Weimarer Demokratie, des Grundgesetzes und der Friedlichen Revolution“.

1871 fehlte in der Aufzählung. Denn diese deutsche Einheit sei seinerzeit „nach Kriegen mit unseren Nachbarn“ erzwungen worden, anschließend sei „mit eiserner Hand“ regiert worden, und es habe nur „ein kurzer Weg“ zum Ersten Weltkrieg geführt.

Damit griff er die Interpretation eines seiner Vorgänger, Gustav Heinemanns, auf, der die Linie in einer Ansprache zum hundertsten Jahrestag 1971 freilich noch länger auszog: „Hundert Jahre Deutsches Reich“ hieße „eben nicht einmal Versailles, sondern zweimal Versailles, 1871 und 1919, und dies heißt auch Auschwitz, Stalingrad und bedingungslose Kapitulation von 1945.“

Das forderte vor 50 Jahren noch Widerspruch heraus. „Die Geschichte eines Volkes läßt sich eben nicht als eine Kausalkette aufeinanderfolgender verhängnisvoller Irrtümer begreifen; es gibt aber auch keinen Nullpunkt, der es zuließe, gleichsam von neuem zu beginnen“, konstatierte der zweite Mann im Staat, Bundestagspräsident Kai-Uwe von Hassel (CDU), während einer Ansprache im Bundestag am 20. Januar 1971.

5-Mark-Stück mit Reichstag und der Aufschrift „Dem Deutschen Volke – 1871-1971“
5-Mark-Stück mit Reichstag und der Aufschrift „Dem Deutschen Volke – 1871-1971“ Foto: JF/vo

Weder „kritiklose Glorifizierung“ sei angebracht, „noch eine grenzenlose Verurteilung“, denn „kein Volk kann seine eigene Vergangenheit leugnen — in ihren Höhepunkten wie in ihren Irrtümern und Fehlern.“ Das Gedenken an die Gründung des Deutschen Reiches vor einhundert Jahren sei „für uns eine Selbstverständlichkeit“, so von Hassel, der dies in die „Aufgabe, die Einheit der Nation zu wahren“ eingebettet verstehen wollte.

„Aufgabe, die Einheit der Nation zu wahren“

Dies hatten auch zwei seiner Vorgänger aus entsprechendem Anlaß betont. „Was uns mit der Zeit vor 80 Jahren verbindet, ist der Wille, mit den Mitteln und Möglichkeiten der Zeit der Einheit, Freiheit und Unabhängigkeit des deutschen Volkes zu dienen“, hatte Bundestagspräsident Hermann Ehlers (CDU) anläßich des Reichsgründungstags 1951 im Bonner Parlament gesagt – unter „lebhaftem Beifall in der Mitte und rechts“.

Als 1961 Eugen Gerstenmaier (CDU) als Präsident des Bundestags eine Rede zum 90. Jahrestag der Reichsgründung angekündigt hatte, regte Bundesinnenminister Gerhard Schröder (CDU), daß auch die Bundesregierung aus diesem Anlaß einen Gedenkaufruf erlasse. Kanzler Konrad Adenauer widersprach dem Ansinnen mit dem Hinweis, „kaum ein Reich, das so kurz bestanden“ habe, notierte ein Kabinettsmitglied. Parlamentspräsident Gerstenmaier, überlebender Veteran des Widerstands gegen den Nationalsozialismus, bettete das Gedenken „an das große Werk“ Otto von Bismarcks ein in die Gegenwart der geteilten Nation.

Der Bundestag sei „der legitime Platzhalter eines künftigen gesamtdeutschen Reichstages“, sagte Gerstenmaier unter dem Beifall des Hauses. „Darum gedenken wir des Deutschen Reiches heute, an seinem 90. Geburtstag, nicht als einer vergangenen, sondern als einer aus der Vergangenheit in die Zukunft der Deutschen greifenden, lebendigen Größe.“

„Einer der großen Staatsmänner unseres Volkes“

Zehn Jahre später, zum 100. Jahrestag, würdigte dann der sozialdemokratische Bundeskanzler Willy Brandt die Reichsgründung als „Werk Bismarcks, eines der großen Staatsmänner unseres Volkes“ und ließ durch seinen Minister für innerdeutsche Beziehungen, Egon Franke (SPD), einen Kranz der Bundesregierung am Grab des ersten Reichskanzlers in Friedrichsruh niederlegen. Symbolisch veranschaulichten ein 5-Mark-Stück mit Reichstag und der Aufschrift „Dem Deutschen Volke – 1871-1971“ sowie eine 30-Pfennig-Briefmarke der Deutschen Bundespost („18.1.1871 – 100 Jahre Reichsgründung“) die Traditionslinie, in der sich die westdeutsche Teilrepublik seinerzeit sah.

Auf die Frage der JUNGEN FREIHEIT, warum das Finanzministerium diesmal nicht mit einem entsprechenden Postwertzeichen an den „runden“ Jahrestag eines historischen Ereignisses, in dessen Folge immerhin ein gesamtdeutsches Parlament durch allgemeine, freie und geheime Wahl zusammen- und eine Verfassung mit rechtsstaatlichen Grundsätzen in Kraft getreten war, erinnert, antwortet das Haus von Minister Olaf Scholz (SPD) ebenso wortreich wie ausweichend – indem es sich für unzuständig erklärt. Über die Motive werde „jährlich in einem festgelegten Verfahren entschieden“. Hunderte Motiv-Vorschläge „von Bürgerinnen und Bürgern, von Organisation und Institutionen sowie Akteuren aus Politik und Gesellschaft“ würden jedes Jahr dem zuständigen Programmbeirat vorgelegt.

„Spiegel unserer Kultur und Zeitgeschichte“

„Der Programmbeirat besteht aus 13 Personen und setzt sich wie folgt zusammen: zwei Vertreter des Bundesministerium der Finanzen, zwei Vertreter der Deutschen Post AG, vier Abgeordnete des Deutschen Bundestages, zwei Vertreter aus dem Bereich der Philatelie, ein Vertreter der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, ein Vertreter des Deutschen Presserats und ein Vertreter der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland.“

Habe sich das Gremium für eine Auswahl von Motiven per Abstimmung entschieden, werden die Ergebnisse anschließend dem Bundesminister der Finanzen zur Billigung vorgelegt.

Die Briefmarken, heißt es in der Antwort des Ministeriumssprechers weiter, „sind ein Spiegel unserer Kultur und Zeitgeschichte, daneben sollen auch die Schönheit unseres Landes, besondere Jubiläen, bedeutende Bauwerke und aktuelle Themen auf diesen kleinsten Kulturbotschaftern präsentiert werden.“ Dies freilich würde alles für eine Berücksichtigung der Reichsgründung vor 150 Jahren sprechen. Damit darf hinter der Entscheidung, es nicht zu tun, ein politisches Motiv angenommen werden.

„Völkerrechtliche Kontinuität des Staates ist gegeben“

Keine Bundestagsrede, kein Kranz, noch nicht mal eine Briefmarke. Erinnerungspolitisch ist das Band zerschnitten. Die Kanzlerin schweigt, der Bundestagspräsident auch, und in der vom Staatsoberhaupt vermessenen Traditionslinie klafft zwischen 1848 und 1919 ein Loch. Ungeachtet der Fakten. „Die völkerrechtliche Kontinuität des Staates, der 1867 als Norddeutscher Bund gegründet und 1871 zum Deutschen Reich ausgedehnt wurde, ist trotz mehrfacher verfassungsrechtlicher Diskontinuität gegeben“, stellte der Staatsrechtler Dietrich Murswiek die Sachlage einmal gegenüber der JUNGEN FREIHEIT klar.

Eugen Gerstenmaiers 1961 geäußerter Wunsch, „daß Gottes Güte uns den hundertsten Geburtstag des Deutschen Reiches vereint und frei in einer Welt des Friedens erleben lasse“, ging so schnell nicht in Erfüllung. Um so unverständlicher, daß es Bundestag und Bundesregierung heute, 30 Jahre nach der Wiedervereinigung, nicht für angezeigt halten, des 150. Jahrestags der Gründung unseres Nationalstaats feierlich zu gedenken.

Gedenk-Briefmarke zur hundertjährigen Reichsgründung 1971 Foto: JF/vo
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