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Ukraine-Krieg: Für Rußland gelten andere Maßstäbe

Ukraine-Krieg: Für Rußland gelten andere Maßstäbe

Ukraine-Krieg: Für Rußland gelten andere Maßstäbe

Putin und seine Generäle 2020: Streßtest für den Westen Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Mikhail Klimentyev
Ukraine-Krieg
 

Für Rußland gelten andere Maßstäbe

Der Krieg in der Ukraine ist nur das Ergebnis einer jahrelangen Entfremdung zwischen dem Westen und Rußland. Russische Sicherheitsinteressen wurden zu lange ignoriert.
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Es wird für Rußland keinen Rückzug aus der Ukraine geben, ohne die Ziele der Militäroperation erreicht zu haben: Sicherung der Krim, Eingliederung der Ostukraine und vielleicht des gesamten Zugangs zum Schwarzen Meer und eine international abgesicherte „immerwährende Neutralität“ der Ukraine. Etwas anderes kann sich Moskau, selbst wenn es zu einem aus heutiger Sicht unwahrscheinlichen Sturz Putins kommen sollte, nicht leisten.

Ein Truppenabzug ohne Erreichen der strategischen Ziele wäre der Anfang vom Ende der gesamten Russischen Föderation. Der Angriff auf die Ukraine ist nicht nur ein deutliches Stoppsignal an die Nato und die offen gegen Rußland agierenden Nichtregierungsorganisationen, sondern auch ein Zeichen an die muslimischen Völker im asiatischen Teil Rußlands: Genießt eure Autonomie, aber innerhalb der Föderation.

Die EU übersieht bei ihren sanktionsbewehrten Forderungen, daß in Rußland ganz andere Maßstäbe gelten. Der russische Präsident hat keinen Respekt mehr vor dem Westen, den er als pseudodemokratisch und doppelzüngig bezeichnet, der im Gegensatz zu Rußland keine echten Werte wie Familie, Patriotismus oder Opferbereitschaft kenne und dessen Militär – abgesehen von den USA – sich in einem offensichtlich erbärmlichen Zustand befindet.

Putin will den Westen einem Streßtest unterziehen

Um so interessanter ist das russische Vorgehen in der Ukraine, dem nach Rußland zweitgrößten Flächenland Europas mit der drittstärksten Armee. Es gleicht einem mißglückten Militärmanöver, daß sich speziell in jenen Regionen für unvorstellbare Zerstörungen sorgt, in denen vor allem ethnische Russen leben. Daß die offene Feldschlacht gegen ein hochgerüstetes Land, das im Ranking des weltweiten Militär-Index des BICC 2020 Platz 16 belegt und über mehr als 300.000 aktiven Soldaten und rund 900.000 gut ausgebildeten Reservisten verfügt, kein Spaziergang wird, mußte dem russischen Generalstab klar gewesen sein.

Wäre es allein um den Sturz der Regierung Selenski gegangen, hätte wohl ein verstärktes Kommandounternehmen gegen das Regierungsviertel gereicht. Aber das ist offenbar nicht einmal versucht worden, wenn man nicht das weitgehend mißglückte Landungsunternehmen von Fallschirmjägern bei Kiew als solches ansieht.

Offenbar geht es Putin tatsächlich darum, den bewaffneten Konflikt zeitlich auszudehnen, die Leistungsfähigkeit der russischen Armee in einer blutigen Militäroperation zu testen – das Leid von Zivilisten war für Rußland noch nie ein Grund, Rücksicht zu nehmen – und die westlichen Demokratien einem Streßtest auszusetzen, um ihnen zu beweisen, daß alle fünf Sanktionspakete wie ein Bumerang auf die Urheber zurücksausen, da sie ihr Ziel nicht treffen.

Putin beharrt auf der Charta von Istanbul

Dafür würde sprechen, daß auch die durch die Ukraine führenden Rohstoffpipelines weiterhin intakt sind, daß Rußland alle Lieferverträge peinlich genau einhält, die Ukraine sogar die vereinbarten Transfergebühren erhält und direkte Cyberattacken auf westliche Ziele bisher nicht gemeldet wurden.

Der Ausschluß Rußlands aus dem internationalen Zahlungsverkehr dürfte lediglich dazu führen, daß es künftig mit Rubel bezahlt. Auf eine sinkende Dollarnachfrage deutet bereits eine Vereinbarung Saudi-Arabiens, das China einräumt, Öl künftig in chinesischen Yuan zu bezahlen. Zwischen Indien und Rußland wird der Handel bereits jetzt in Rupien und Rubel abgewickelt.

Das Fehlen von allgemein akzeptierten Spielregeln zur Lösung von Konflikten ist bis heute das beherrschende Grundproblem geblieben. Das Beispiel des von der Ukraine beabsichtigten Nato-Beitritts, der Hauptgrund für den derzeit herrschenden Krieg, verdeutlicht das. Während der Westen an der Nato-Doktrin der „offenen Türen für alle“ festhält, pochen die Russen auf die Charta von Istanbul. In dieser ist zwar das Prinzip der freien Bündniswahl festgeschrieben, aber auch, daß kein Land seine Sicherheit auf Kosten der Sicherheit anderer vorantreiben dürfe.

Rußland pocht seit 30 Jahren auf seine Sicherheitsinteressen

Daß es seine Sicherheitsinteressen mit der sich immer weiter nach Osten vorschiebenden Nato beeinträchtigt sieht, beklagt Rußland seit bald 30 Jahren, ohne ernst genommen zu werden. „Wir sind gegen eine Militärallianz, die sich in unserem Hinterhof und in unserem historischen Territorium breit macht“, so Putin im März 2014 in seiner Rede an die russische Nation: Alles habe seine Grenzen. Und in der Ukraine hätten „die westlichen Partner die rote Linie“ überschritten.

Die Weltgemeinschaft wäre gut beraten gewesen, sich schon vor Jahren mit der Entstehungsgeschichte der Ukraine und den willkürlichen Grenzziehungen in der 1921/22 UdSSR zu beschäftigen. Auch der Anspruch Rußlands auf die Halbinsel Krim läßt sich historisch mindestens genauso rechtfertigen, wie die von Japan gerade erneuerte Forderung nach Rückgabe der im Zweiten Weltkrieg an Rußland verlorenen Inseln. Daß er durchaus zu Zugeständnissen bereit ist, beweist Putin 2004, als er von drei Inseln im Ussuri mit ungeklärtem Status zwei an China abtritt und die dritte geteilt wird.

Rußland hat Angst vor der Einkreisung

Neben der befürchteten Einkreisungspolitik, ein ewiges Trauma der Russen, fühlt sich das im Eigenverständnis wieder zur Weltmacht aufgestiegene Rußland von den USA, die es als „Regionalmacht“ (Obama) und „schwaches Land“ (Biden) bezeichnen, brüskiert. Weitgehend vergessen ist heute, daß die Ukraine und Rußland nach dem Fall des Eisernen Vorhangs „im Gleichschritt ihre Beziehungen zum Westen ausbauten“, wie Andreas Kappeler, Professor für osteuropäische Geschichte, in seinem Buch „Ungleiche Brüder. Rußland und die Ukraine“ erinnert: 1997 schließen beide Länder ein Abkommen mit der Nato, aus dem der Nato-Rußland-Rat beziehungsweise der Nato-Ukraine-Aktionsplan entstehen.

Auch können wichtige Verträge umgesetzt werden, wie das Budapester Memorandum von 1994, in dem die Ukraine auf ihre Kernwaffen – eine über Atomwaffen verfügenden Ukraine hätte Putin im Februar 2022 garantiert nicht angegriffen – verzichtet und dafür Rußland, Großbritannien und die USA die bestehenden Grenzen der Ukraine garantieren.

China als Vermittler

Das historische Zeitfenster schließt sich schnell wieder. „Die Chancen von 1989/90 auf eine stabile internationale Friedensordnung unter Einschluß Rußlands“ seien auch durch die Nato verspielt worden, schreibt Horst Teltschik, von 1999 bis 2008 Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, in seinem Buch „Russisches Roulette. Vom Kalten Krieg zum Kalten Frieden“ von 2019 und warnt vorausblickend: „Wir brauchen dringend eine Neuauflage der Entspannungspolitik, wenn wir nicht Gefahr laufen wollen, vom Kalten Frieden in einen heißen Konflikt zu schlittern.“ Aber Putin wird nicht einmal gehört, als er zur Eindämmung des Ostukraine-Konfliktes den Einsatz von UN-Blauhelmsoldaten fordert.

China wiederum macht darauf aufmerksam, daß die „Ukraine-Frage letztlich aus dem Ungleichgewicht der europäischen Sicherheit“ erwachsen sei, so Außenminister Wang Yi. Erforderlich sei ein „ausgewogener, effektiver und nachhaltiger europäischer Sicherheitsrahmen“. Sein Land, so versichert Wang, bemühe sich auf seine eigene Weise um einen baldigen Waffenstillstand und die Wiederherstellung des Friedens.

China profitiert

Chinesen als Vermittler einer neuen Annäherung zwischen Rußland und dem Westen – was für eine schöne Pointe. In Deutschland trauen sich nur wenige Politiker, wie kürzlich der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer, vor einem völligen Abbruch der Beziehungen zu Rußland zu warnen. Europa brauche eine wirtschaftliche Verflechtung mit Rußland und dieses müsse „auch ein Stück weit von Europa abhängig“, bleiben, so der CDU-Politiker im Spiegel: Ein Rußland ohne europäische Anbindung würde „unkalkulierbar“.

So ist es nicht unwahrscheinlich, daß sich zwischen der EU und Rußland wieder ein Eiserner Vorhang senkt. Moskau dürfte das weniger schaden, als Europa, das seinen Reichtum dem globalen Handel verdankt. Rußland wird die Reichtümer Sibiriens künftig an das rohstoffhungrige China verkaufen und von diesem all das beziehen, was ihm Europa und die USA vorenthalten.

Putin und seine Generäle 2020: Streßtest für den Westen Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Mikhail Klimentyev
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