Seit nun zehn Monaten verteidigt sich die Ukraine gegen den russischen Angriff. Viele rechneten im Februar mit einem kurzen Krieg. Aber die Truppen von Rußlands Präsident Wladimir Putin offenbarten von Beginn an Schwächen und wurden vom ukrainischen Widerstand schwer getroffen. Im Gespräch mit der JF bilanziert der Militärexperte Alexander Jag den Kriegsverlauf, die Rolle deutscher Waffen und wagt einen Ausblick. Sein Unternehmen Global AG beteiligt sich mit eigenem Personal an Einsätzen auf ukrainischer Seite.
Sind Sie als Militär-Experte überrascht, daß der Krieg in der Ukraine seit zehn Monaten tobt? Hätte Rußland, daß eigentlich noch im Ruf einer militärischen Großmacht stand, nicht siegen müssen?
Alexander Jag: Nein, ich bin überhaupt nicht überrascht. Es war seit Jahren ersichtlich, daß jede einzelne Einheit der russischen Armee, was die technische Ausrüstung angeht, dem Westen hinterherhinkt.
Bereits wenige Tage vor Kriegsbeginn hatte ich meine Prognose über den Kriegsverlauf veröffentlicht. Darin ging es unter anderem auch um die Aussicht Rußlands auf realistische Gebietsgewinne. Die Voraussage deckte sich weitgehend mit dem späteren russischen Vormarsch. Ausnahme war die Region Odessa. Denn da die Moskwa (das Flaggschiff der russischen Schwarzmeerflotte – Anm. d. Redak.) versenkt wurde, konnten Moskaus Truppen bei Odessa keine amphibische Landung vornehmen.
Wer wollte, konnte bereits im Vorfeld über Rußlands Potential und Vorgehen bescheid wissen. Das wollten jedoch gerade in Deutschland viele politische Entscheider nicht.
Für mich ist das bislang einzig überraschende in diesem Krieg, wie genau sich Rußlands Pläne vorhersagen ließen; inklusive des Bombardements der ukrainischen Infrastruktur als Teil der russischen Strategie mit Blick auf den Winter. Trotz Moskaus Bemühungen um Geheimhaltung war der Kreml in seinem Vorgehen sehr berechenbar. Denn die Versuche der Geheimhaltung waren kläglich. Überspitzt gesagt, agiert ein mexikanisches Drogenkartell konspirativer als der russische Verteidigungsapparat.
„Krieg ist zu zwei Dritteln Logistik“
Vor allem im Bereich der Versorgung der eigenen Truppen hat Moskau bislang seine Schwierigkeiten nicht in den Griff bekommen. Hatten Sie erwartet, daß die russische Armee mit so großen Mängeln in Ausrüstung, Logistik und Moral der Truppen zu kämpfen haben würde?
Jag: Nehmen wir als Beispiel Lastwagen, die für die Versorgung unerläßlich sind. Es ist bemerkenswert, daß Rußland jetzt noch Militär-LKW hat und nicht schon zivile Fahrzeuge verwendet. Aber das liegt nur daran, daß Moskau durch den Verlust ganzer Frontabschnitte weniger Terrain zu versorgen hat. Ansonsten wären die Verluste an entsprechendem Material für die russische Armee kaum noch kompensierbar.
Innerhalb Rußlands ist das übrigens kein Problem. Da die Streitkräfte dort auch auf ein Schienennetz zurückgreifen können, was sie in der Ukraine eben nicht können. Somit stehen Putins Truppen nach Grenzübertritt schon vor dem Problem.
Doch das ist nicht neu. Denn schon während der Stationierung der russischen Angriffstruppen an der Grenze zur Ukraine verschlechterte sich aufgrund der Logistikprobleme deren Zustand. Hätte Putin mit dem Angriff noch länger gewartet, wären seine Soldaten praktisch ausgehungert gewesen, bevor es losging. Die Moral wäre am Tiefpunkt gewesen. Laut unserer Informanten aus Weißrußland war dort die Versorgung der Russen schon vor Kriegsbeginn grottenschlecht.
Es wird gern vergessen, daß Krieg zu zwei Dritteln Logistik ist und nur ein Drittel Kampf. Da erinnere ich gern an die Weisheit „Amateure reden von Strategie, Profis von Logistik“. Lassen Sie es mich runterbrechen: Rechnerisch hätte Rußland pro Soldat der Angriffsarmee idealerweise drei bis vier Mann Logistiker im Hintergrund haben müssen; Fahrer, Köche, Techniker.
„Teilmobilmachung hat Rußland vor Niederlage bewahrt“
Gab es Momente, in denen Sie in den vergangenen Monaten dachten, Putins Truppen würden den Krieg nun für sich entscheiden können?
Jag: Ja, in den ersten Kriegstagen hatte ich einige depressive Stunden, da ich dachte, mich geirrt zu haben. So befürchtete ich, Rußland könnte weit mehr Gebiete erobern, als angenommen.
Zunächst schien es auch so, daß Rußland den Krieg gewinnen könnte; auch, weil Westeuropa so zögerlich reagierte. Da habe ich mich gefragt, ob den westeuropäischen Staaten klar ist, was ein russischer Sieg bedeuten würde?
Besonders gefährlich war am Anfang des Krieges die Einnahme des ukrainischen Atomkraftwerkes Saporischschja durch Rußland. Denn wäre es während der Kämpfe darum zu einer nuklearen Havarie gekommen, hätten auch an die Ukraine grenzenden Nato-Staaten verstrahlt werden können. Daher ging ich davon aus, daß die Nato in so einem Fall die Eroberung des Kraftwerkes proaktiv verhindern würde.
Hat die russische Teil-Mobilmachung im September Moskau vor der Kriegsniederlage bewahrt? Welche Auswirkungen hatte die Entsendung dieser Truppen?
Jag: Die Teilmobilmachung hat Rußland vor der Niederlage bewahrt. Doch was heißt „Teilmobilmachung“? Angesichts von 350.000 Mann ist schon von einer richtigen Mobilmachung zu sprechen.
Doch aufgrund der geringeren Qualität dieser Nachzügler ist darin auch kein großer Vorteil für die russische Armee zu sehen. Hinzu kommt, von den rund 250.000 russischen Soldaten, die bei Kriegsbeginn in die Ukraine einmarschierten, sind kaum noch welche im Kampf. Das dürften weniger als zehn Prozent sein, die noch einsatzfähig sind. Der Rest ist gefallen oder verwundet.
Angesichts der schlechteren Qualität der neuen Truppen halte ich es für wahrscheinlich, daß die russische Armeeführung bald die Taktik ändern wird. Dann könnte sie dazu übergehen, wie im Zweiten Weltkrieg auf menschliche Angriffswellen zu setzen. Das hatte schon die Rote Armee gegen die deutsche Wehrmacht so gehandhabt.
„‘Gepard’ ist ein Meisterstück“
Das Thema Waffenlieferungen an die Ukraine bestimmte hierzulande lange die öffentliche Diskussion. Haben Sie Rückmeldungen aus den ukrainischen Streitkräften, wie die Resonanz auf die deutschen Waffensysteme wie den „Gepard“ ist?
Jag: Der Luftabwehrpanzer „Gepard“ ist taktisch entscheidend. Man mag vergessen, daß er schon Jahrzehnte alt ist. Aber der ist schon ein Meisterstück. Er taugt für die Luftabwehr, aber auch für den Bodenkampf gegen feindliche Stellungen und sogar Panzer. Der „Gepard“ ist eigentlich die Zukunft der modernen Panzer, die bislang nicht beachtet wurde. Er ist ein echter Allrounder.
Die Russen hatten das mit ihrem Tunguska Flak-Panzer ebenfalls auf dem Schirm. Doch spätestens hier zeigt die Diskriminierung nichtwestlicher Staaten bei der Versorgung mit Computerchips Wirkung. Denn ohne die gelang es Moskau nicht, seine Pläne für eigene Panzer dieser Bauart umzusetzen.
Doch ein in der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtetes deutsches Waffensystem von großer strategischer Bedeutung für die ukrainischen Truppen ist der Raketenwerfer Mars II MLRS. Denn die Effektivität dieses Geräts ist unglaublich. Mars II war ein Game-Changer zusammen mit den Himars-Raketenwerfern.
Welche Erkenntnisse hinsichtlich der Kriegsführung im 21. Jahrhundert haben die seit zehn Monaten anhaltenden Kämpfe für Sie gebracht?
Jag: Was die Entwicklungen des Kriegsverlaufs betrifft, gab es bislang keine großen Überraschungen. Das ließ sich für Fachleute schon präzise vorhersagen und deckt sich mit unseren Prognosen.
Was in konkreten Kampfhandlungen jedoch so nicht erwartet wurde, ist, wie ineffektiv Flächenbombardements mit Raketenartillerie sind; beispielsweise vom Typ Tos-1 und BM-21. Letztere Modelle sind im Ukraine-Krieg vielfach im Einsatz und gehören zur ungeleiteten, reaktiven Artillerie.
Jüngste Erfahrungen haben gezeigt, daß Truppen den Beschuß mit diesen Waffen in ihren Gräben überleben können. Anschließend sind die Soldaten immer noch kampfbereit. Man fragt sich, warum so viele dieser ineffektiven Raketenwerfer überhaupt hergestellt und immer noch eingesetzt werden?
„Ukraine wird mittelfristig keine Atommacht“
Wagen Sie eine Prognose, was das kommende Jahr an der Front bringen wird? Wer könnte als Erster in die Offensive gehen?
Jag: Im aktuellen Winter wird es keine Pause der Kampfhandlungen geben. Derzeit sieht es aus, als seien die Ukrainer besser auf die Situation eingestellt. Damit können sie auch die kommenden Monate für sich nutzen. Es wird höchstens eine kurze Verschnaufpause geben, bevor die nächste Offensive der Ukrainer beginnen wird.
Nach meiner Einschätzung wird Kiew den Krieg mittelfristig gewinnen. Vielleicht nicht im kommenden Jahr, aber dann spätestens 2024 – sofern die westliche Unterstützung mit Waffen und Material anhält. Dann wird sie auch die seit 2014 von Rußland annektierten Gebiete zurückerobern.
Lassen Sie mich noch anmerken: Mittelfristig gehe ich nicht davon aus, daß die Ukraine eine Atommacht wird. Allerdings nur, wenn sie ein effektives Verteidigungssystem an ihrer Ostgrenze schaffen kann. Das entstünde beispielsweise durch Kanäle, die nicht nur als Transportwege, sondern auch als Hindernisse fungieren können.
Anderenfalls wird die Ukraine – wie seinerzeit Israel – plötzlich von irgendwoher Atomwaffen bekommen. Ein Raushalten der Ukraine aus der Nato wäre zudem ein Umstand, der für Rußland eine Gesichtswahrung für die Zeit nach dem Krieg ermöglicht. Dies wäre aber nur dann möglich, wenn die Ukraine physisch rundum abgesichert ist.
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Alexander Jag ist Büroleiter der internationalen Sicherheitsfirma Global AG und Autor des Strategiepapiers „Der ewige Krieg – wie Geografie zum Kämpfen verdammt“. Die Global AG beteiligt sich mit eigenem Personal an Einsätzen auf ukrainischer Seite.