Herr Professor Merkens, in dieser Woche hat das Berliner Max-Planck-Institut für Bildung eine vertiefende Teilanalyse der Pisa-Studie vorgestellt. Schlagzeilen machte dabei die Erkenntnis, daß ein erhöhter Ausländeranteil das Lernniveau an unseren Schulen senkt. Merkens: Nun, die Pisa-Studie hat aufgezeigt, daß in Deutschland die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht ein Faktor für Bildungserfolg ist. Da die Ausländer überwiegend der unteren sozialen Schicht angehören, drücken ihre Leistungen ganz folgerichtig die deutsche Gesamtbilanz. So wie das in der letzten Woche in den Medien formuliert wurde, macht das als Schlagzeile natürlich was her, ist aber für jeden, der von Statistik etwas versteht, kein sonderlich überraschendes Ergebnis. Erweist sich die Einwanderung damit einmal mehr als teurer Luxus? Merkens: Es liegt bei uns selbst: Entweder wir bekommen in Zukunft wieder mehr Kinder, oder wir werden Einwanderung organisieren und in die Bildung der Immigranten investieren müssen. Also muß bei der Bevölkerungspolitik angesetzt werden, um die Kosten im Bildungssystem zu senken? Merkens: Nun, wenn Sie meinen, die Deutschen dazu bewegen zu können, pro Ehepaar wieder zwei, drei Kinder zu bekommen … Solange aber sollten wir die Einwanderung als ein Kapital betrachten, das wir pflegen müssen. Dennoch haben wir es mit einem ungelösten Integrationsproblem zu tun. Ist es da nicht fahrlässig, durch weitere Einwanderung das Problem noch zu verschärfen? Merkens: Das ist wohl richtig, aber die Pisa-Studie weist auch darauf hin, daß die Probleme bei einem Ausländeranteil von über 20 Prozent in den Schulen nicht weiter zunehmen. Die Autoren vermuten, die Schulen würden dann entsprechende Fördermaßnahmen ergreifen. Solange Sie aber immer noch keine Antwort darauf gegeben haben, wie die Fertilität der Deutschen zu erhöhen ist, möchte ich lieber von einem mangelhaften Integrationssystem, statt von zu vielen Ausländern sprechen. Die Integration an den Schulen muß also verbessert werden. Macht das aber nicht alle multikulturellen Experimente, die zur Bildung von Parallelgesellschaften führen, verantwortungslos? Merkens: Diesbezüglich hat man weltweit völlig unterschiedliche Konzepte erprobt. In New York zum Beispiel erhält jedes Kind möglichst auch in seiner Muttersprache Unterricht, während in Kalifornien an den Schulen nur noch Englisch als Unterrichtssprache zulässig ist. Was empfehlen Sie für Deutschland? Merkens: Alle Kinder sollten in der Mehrheitssprache Deutsch und in zwei wichtigen Fremdsprachen so viel Kompetenz erlangen, daß sie später verantwortliche Positionen bekleiden können. Ob ausländische Kinder das nun vor dem Hintergrund einer ethnischen Orientierung oder durch ausschließliche Assimilation an die deutsche Mehrheitssprache machen, ist sekundär. An der Spitze der Pisa-Rangfolge steht in der „Disziplin“ Lesefähigkeit Finnland und hinsichtlich der mathematischen und naturwissenschaftlichen Fähigkeiten Japan – beides sehr homogene Staaten. Merkens: Mit im oberen Drittel steht aber auch Schweden, das ausgesprochen viele Ausländer und gegenüber diesen in der Vergangenheit viele Zugeständnisse gemacht hat. Oder Kanada, das sich als selbst als „multikulturelle Gesellschaft“ klassifiziert. Was ist das Geheimnis Japans? Merkens: Japan hat eine sehr leistungsorientierte Gesellschaft, denken Sie daran, daß die Selbstmordrate unter japanischen Schülern ausgesprochen hoch ist. Ich glaube nicht, daß das japanische System für uns zu adaptieren ist. Die Pisa-Studie hat für Deutschland zwei erschreckende Ergebnisse gebracht: Erstens und inzwischen landauf, landab bekannt, Deutschlands Schüler rangieren international nur im Mittelfeld – was für ein Land wie Deutschland ein schlechtes Abschneiden bedeutet. Zweitens, in keinem Land Europas ist der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und schulischer Leistung so groß wie bei uns. Das erstaunt um so mehr, da Deutschland als Land des vorbildlichen sozialen Ausgleichs gilt. Merkens: Dies spiegelt sich aber nicht in unserem Bildungssystem wieder. Länder wie Schweden oder Finnland haben sozial viel ausgeglichenere Bildungssysteme. Welche Konsequenzen haben die Erziehungswissenschaftler daraus gezogen, ist dieses Ergebnis näher untersucht worden? Merkens: Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) hat schon als Reaktion auf die ernüchternden Ergebnisse der TIMSS-Studie – des Vorgängers der Pisa-Studie – entsprechende Forschungsprogramme aufgelegt. Künftig will die DFG zudem weitere erziehungswissenschaftliche Projekte an dafür geeigneten Universitäten initiieren. Wir reagieren also durchaus auf die Probleme, die Pisa offenbart hat. Aber welche inhaltlichen Ergebnisse hat die Untersuchung der sozialen Kluft im Volk erbracht? Merkens: Als Konsequenz auf dieses Problem empfehlen wir die Schaffung von Unterstützungssystemen für die Schüler, deren Benachteiligung diese Kluft bedeutet. Zum Beispiel? Merkens: Etwa durch Erhöhung der Lernzeiten, zum Beispiel durch die Einführung von mehr Ganztagsschulen. Was die weitere Abkopplung der Kinder von der Familie bedeutet. Merkens: Wenn bestimmte Kinder in der Schule Schwierigkeiten haben, dann muß man darauf reagieren. Eine andere Möglichkeit wäre, den Samstags-Unterricht wiedereinzuführen, denn es gibt Hinweise, daß eine längere Lernunterbrechung, wie sie das Wochenende bedeutet, der Lernqualität abträglich ist. Natürlich bedarf es aber eines Bündels an Maßnahmen. Was empfehlen Sie konkret als grundlegende, richtungsweisende Maßnahmen? Merkens: Erstens ist die Finanzierung unseres Erziehungssystems zu überdenken, so kosten Kindergartenplätze die Eltern Geld, Studienplätze aber nicht – da muß umgedacht werden. Kindergärten und Vorschulen müssen frei zugänglich sein, da sie der Förderung der Kinder zur Schulreife mit sechs oder sieben Jahren dienen. Deshalb brauchen wir dort auch qualifizierteres Personal, damit zum Beispiel ausländische Kinder mit besseren sprachlichen Fähigkeiten eingeschult werden können und der Schulunterricht von Anfang an fruchten kann. Kapital unseres rohstoffarmen Landes sind Wissen und Fähigkeiten der Deutschen. Zeigen die Pisa-Resultate also eine Gefährdung des „Standort Deutschland“ an, oder geht diese Schlußfolgerung zu weit? Merkens: Aus der Pisa-Studie alleine läßt sich eine solch weitreichende Schlußfolgerung in der Tat nicht ziehen, da es sich bei ihr nur um eine Querschnittsstudie handelt, es fehlt zum Beispiel eine Ursache-Wirkung-Untersuchung. Andere Studien aber, wie zum Beispiel die „Bildung auf einen Blick“-Studie der OECD, sprechen eine deutliche Sprache und zeigen, daß die Position Deutschlands im internationalen Wettbewerb langfristig durchaus gefährdet ist, weil wir vergleichsweise wenige Jugendliche zur Hochschulreife führen und diese dann auch noch überdurchschnittlich lange an den Universitäten verweilen. Die Pisa-Studie liefert Erkenntnisse über die Breitenbildung der deutschen Schüler. Ist diese denn eine unbedingte Voraussetzung zur Elitenbildung, die für eine Haltung unserer Position notwendig ist? Oder wäre deren Rekrutierung nicht auch über spezialisierte Bildungseinrichtungen möglich? Merkens: Wenn wir uns auf die sogenannte „Wissensgesellschaft“ der Zukunft vorbereiten wollen, dann ist das Wissen der Mehrheit eine notwendige Voraussetzung. Auch zum Beispiel in Frankreich oder den angelsächsischen Ländern findet Elitenbildung auf einer Massenbasis statt. Deutschland hat im 19. und 20. Jahrhundert ein erfolgreiches Elitenbildungssystem entwickelt. Warum funktioniert dieses heute nicht mehr? Merkens: Unser altes System – das bis Anfang der sechziger Jahre funktionierte – gab nur etwa fünf bis zehn Prozent eines Jahrganges die Chance, die Hochschulreife zu erlangen. Den Schwenk von der für Eliten vorgesehenen Spezialbildung an Universitäten zur Massenbildung, die spätestens seit den siebziger Jahren Voraussetzung dafür ist, wettbewerbsfähig zu sein, wurde leider verpaßt. Mitverantwortlich für das Absinken des Bildungsniveaus scheinen die sozialdemokratischen Schulexperimente der siebziger und achtziger Jahre zu sein, wie das in der Pisa-Studie zum Ausdruck kommende Nord-Süd-Gefälle nahelegt. Merkens: Das ist nicht so leicht zu beurteilen, denn Pisa stellt eine zu geringe Grundlage für eine solch weitreichende Schlußfolgerung dar. Womit ist dieses Gefälle sonst zu erklären? Merkens: Man könnte die Ergebnisse zum Beispiel auch so interpretieren: Es sind die großen Flächenländer, die besser abschneiden als die Stadtstaaten. Möglicherweise gibt es in letzteren also sozio-kulturelle Probleme, die in den Flächenstaaten so nicht zum Ausdruck kommen. Aber wir begeben uns hier auf das Feld der Vermutungen. Um valide Aussagen machen zu können, müßten weitere Studien Klarheit schaffen. Herr Professor Merkens, geht mit dem Vorrang von technischem und Informationswissen nicht das in Deutschland sowieso schon darniederliegende humanistische Bildungsideal endgültig verloren, das Bildung nicht als „Kompetenz“, sondern als eine Form des umfassenden Menschseins verstand? Merkens: Nein, es geht bei der notwendigen Reform nicht um die „Vernaturwissenschaftlichung“ der Bildung. Es geht um die Wiedererlangung und Verbesserung so elementarer Fähigkeiten wie der Leseskompetenz, die Basis für das Lernen überhaupt ist, ob es nun naturwissenschaftlich oder humanistisch ist. Es geht darum, die Grundlagen für die Zukunft zu legen, und auch dort wird es Platz für Griechisch und Latein geben. Foto: Studenten an der Technischen Universität Chemnitz: „Entweder wir bekommen in Zukunft wieder mehr Kinder, oder wir werden Einwanderung organisieren und in die Bildung der Immigranten investieren müssen.“ Prof. Dr. Hans Merkens lehrt Erziehungswissenschaft an der Freien Universität Berlin und ist Vorsitzender der „Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft“ (DGfE). Geboren 1937 in Siegen/Westfalen, forscht er seit 1975 an der FU mit dem Schwerpunkt Empirische Erziehungswissenschaft. Kontakt: Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, Fabeckstraße 13, 14195 Berlin, im Weltnetz: www.dgfe.de weitere Interview-Partner der JF
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