Wir Altphilologen sind realistisch genug, um zu wissen, daß an der Mehrzahl der Gymnasien Latein, wenn es überleben kann, als zweite Fremdsprache überleben wird. Die sinnvollere Reihenfolge bleibt trotzdem, zuerst Latein und dann moderne europäische Sprachen zu lernen – jedenfalls, soweit sie eine romanische Wurzel haben. Anders als in der Tanzstunde sollte man bei den Sprachen zuerst die Mutter und dann die Töchter kennenlernen. Das Problem am Vorschlag, erst ältere Schüler Latein lernen zu lassen, liegt darin, daß Latein im fortgeschrittenen Schulalter schwerer zu schaffen ist. Je später Latein erlernt wird, desto mühevoller wird es. Erwachsene tun sich überhaupt schwerer damit; natürlich ist Englisch immer leichter zu bewältigen. Latein ist eine Sprache, die man nicht automatisch durch Nachahmung sprechen lernt wie die modernen Fremdsprachen, die man durch viel Hören und Sprechen beherrschen kann. Es wird mit dem Verstand gelernt und in seiner Struktur durchdacht: Im Lateinischen wird „konstruiert“. Diese Methode funktioniert bei Jüngeren mit 10 bis 12 Jahren offenkundig besser. Auch sie muß fortwährend geübt werden. Jede Sprache muß angewandt sein -wenn nicht, gerät auch eine moderne Sprache, ja selbst die Muttersprache in Vergessenheit. Sehen Sie sich die Folgen der fehlenden Sprachpraxis in Brüssel an: Dort beklagt man, daß die deutschen Beamten zu wenig sicher in Englisch und Französisch seien. Aber diese Beamten sind fast alle Absolventen neusprachlicher Gymnasien mit Englisch als erster Fremdsprache und haben auch Französisch in der Schule gelernt. Beim Lateinischen und Griechischen geht es andererseits nicht allein um die Sprache, sondern wesentlich um die Inhalte. Diese klassische Sprachen führen an die Wurzeln Europas, an dessen historische und geistesgeschichtliche Ursprünge. Und das macht ihren Wert aus. Hartmut Fritz , Oberstudiendirektor, ist Direktor des Melanchthon-Gymnasiums in Nürnberg. Grundsätzlich sind an allen Gymnasien in Deutschland nur zwei Fremdsprachen Pflicht. Wenn Latein in jedem gymnasialen Bildungsgang obligatorisch wäre, müßte es ausnahmslos in der Position der ersten oder der zweiten Fremdsprache stehen. Schon heute haben 30 Prozent der deutschen Abiturienten Kenntnisse in nur zwei Schulfremdsprachen, in Englisch und Latein. Dies liegt außerhalb des sprachenpolitischen Ziels der EU: Beherrschung von Muttersprache plus zwei modernen Fremdsprachen durch alle Europäer. Jede zu lernende Sprache nimmt Lernzeit in Anspruch. Wer Latein als erste oder zweite Fremdsprache verpflichtend macht, nimmt Lernkapazitäten in der Phase vor der eigentlichen Pubertät in Anspruch, in der die Kinder zum imitierenden Sprechen und spontanem Verstehen von lebenden Fremdsprachen noch gut disponiert sind. Es entsteht dann die für das Sprachenlernen unökonomische Situation, daß ein junger Mensch, der eine dritte Sprache lernen will, die genannten Fähigkeiten dann benötigt, wenn sie nachlassen und die analytischen zunehmen, die zum Erlernen des Lateinischen, das zu einer optimalen gymnasialen Bildung gehört, nötig sind, aber vor der Pubertät noch nicht so ausgeprägt sind. Es stellt sich also nicht die Frage: Latein oder Französisch, sondern in welcher Reihenfolge sie zu lernen sind. Wenn man Forschungsergebnisse berücksichtigt, die schon seit zehn Jahren bekannt sind, spricht vieles dafür, nicht Französisch auf der Grundlage von Latein zu lernen, sondern umgekehrt, Latein – und am besten auch noch Englisch – auf der Grundlage von Französisch. Denn dies ist die Sprache mit dem höchsten Übertragungswert. Es ist wissenschaftlich nachgewiesen, daß sie für unseren schulischen Kontext die größte Transferbasis hat, eben auch eine größere als Latein. Kurz: Wer Latein verpflichtend macht, behindert europäische Mehrsprachigkeit. Nando Mäsch ist Leitender Regierungsschuldirektor a.D. und war Vorsitzender der AG „Gymnasien mit zweisprachig deutsch/französischem Zug in Deutschland“.