Prinz Asserate, Ihr bei Lesern wie Kritikern erstaunlich erfolgreiches Buch „Manieren“ – unter anderem von der Tageszeitung „Die Welt“ gerade zum Buch des Jahres gewählt – ist kein Ratgeber, sondern eine philosophische Reflexion zum Thema. Das hat auch schon der Freiherr von Knigge versucht, doch obwohl sein Buch „Vom Umgang mit Menschen“ heißt, vermuten die Leute bis heute dahinter einen praktischen Leitfaden. Hat Sie diese Aussicht, mißverstanden zu werden, nicht entmutigt? Asserate: Mißverstanden kann ich nur von Leuten werden, die mein Buch nicht gelesen haben. Dagegen ist kein Kraut gewachsen. Knigge ging es nicht anders, denn obwohl ihn beinahe jeder im Munde führt, scheint ihn niemand wirklich gelesen zu haben. So wissen die Leute auch nicht, daß der Freiherr ein großer Schriftsteller war, der übrigens auch einen phantastischen Roman über meine Heimat Äthiopien geschrieben hat. Was sind denn nun eigentlich Manieren? Asserate: Ganz bestimmt keine Frage von Gabel links, Messer rechts oder ähnlichem. Allein die Benimm-Regeln zu beachten, macht niemanden zu einem Menschen mit guten Manieren. Man könnte die Manieren vielmehr die Frucht der Moral nennen – den äußeren, ästhetischen Ausdruck einer inneren Verfaßtheit. Thomas Mann sagte einmal zu seinem Bruder Heinrich: „Du bist immer so absolut, ich aber habe geruht, mir eine Verfassung zu geben.“ Menschen, die geruht haben, sich eine Verfassung zu geben, sind die Menschen mit guten Manieren. Es geht darum, um eines Prinzips willen sich selbst durch sein Verhalten gegenüber anderen zu ehren. Lassen Sie mich ein Beispiel nennen: Der französische König Ludwig XIV., der sich übrigens aus Respekt vor dem weiblichen Geschlecht vom Eßtisch erhob, wenn ein Dienstmädchen vorüberging, sah sich einmal einer besonders unverschämten und erpresserischen Forderung eines Höflings ausgesetzt. Er stand auf, ging zum Fenster und warf seinen Stock hinaus. Dem verblüften Höfling erklärte er: „Ich wollte mich nicht in die Versuchung bringen, einen französischen Edelmann zu schlagen.“ „Die Deutschen sollten ihre großen Traditionen in Ehren halten“ Die „Neue Zürcher Zeitung“ schreibt, Sie wandelten auf „dem Minenfeld konservativer Kulturkritik“. Asserate: Ich spreche eben über konservative Werte: Denn die Haltung, die ich mit Manieren kennzeichnen möchte, ist von Demut, Anmut, Ehre und Respekt vor Traditionen gekennzeichnet. Es stimmt, Manieren haben autoritären Charakter, sie entziehen sich der Diskussion. „Über Geschmack läßt sich nicht streiten“, gehört zu den vielen Zitaten aus der Antike. Gemeint ist aber nicht etwa deshalb, weil er Privatsache ist, sondern weil es nur einen einzigen guten Geschmack gibt, der aber ist ein Axiom. „Dieses Buch ist Deutschland gewidmet“, heißt es auf der ersten Seite. Ein Wink mit dem Zaunpfahl? Asserate: Nein! Es geht keinesfalls darum, den Deutschen Manieren beizubringen, dazu habe ich nicht das geringste Recht. Deutschland ist einfach das Land, das mir Zuflucht gewährte, während mein Vater nach der kommunistischen Revolution in Äthiopien ermordet wurde, meine Brüder in einem Kerker saßen. Wenn ich eine Botschaft an die Deutschen richten möchte, dann die, ihr Patrimonium, also ihr väterliches Erbe, ihre großen Traditionen nicht zu vergessen, sondern in Ehren zu halten und an die nächste Generation weiterzugeben. Sind die Deutschen denn ein manierliches Volk? Asserate: Nicht weniger und nicht mehr als die anderen Europäer. Sie waren aber einmal manierlicher, wie Sie in Ihrem Buch durchblicken lassen. Asserate: Denken Sie doch etwa an Preußen und seine Tugenden. Ich kann nicht verhehlen, daß es mir leid tut, daß dieses Erbe von den Achtundsechzigern – bei allem Verständnis für die Notwendigkeit gewisser Reformen damals – achtlos vertan worden ist. Die Deutschen sind damit ärmer geworden, auch was den Umgang untereinander angeht. Entwickelt hat sich statt einer Gesellschaft mit Gemeinsinn eine Ellenbogenmentalität. Die wollten die Achtundsechziger zwar eigentlich bekämpfen, tatsächlich aber haben sie sie befördert. Immerhin aber stelle ich heute – allerdings ein zartes Pflänzchen – eine Rückbesinnung auf Manieren fest. Inwiefern? Asserate: Haben wir nicht in den letzten Monaten in der Zeitung von Benimm-Unterricht an Schulen gelesen, von der Diskussion über eine angemessene Bekleidung dort? Ändert sich aber auch nur das geringste am unterschwelligen gesellschaftlichen Leitbild der Selbstbezogenheit? Asserate: Ich bin kein Prophet, ich stelle nur erste Anzeichen für einen Mentalitätsumschwung fest. In Ihrem Buch weisen Sie daraufhin, es bestünde immer auch die Gefahr, daß sich Benimm zu völlig unmanierlichen Zwecken praktizieren läßt. Besteht nicht die Möglichkeit, daß sich das wiedererwachte Interesse an dem Thema vor allem auch daraus speist? Asserate: Natürlich gibt es Menschen, die Benimm dazu verwenden, um sich zu produzieren und sich abzugrenzen. Dieses Phänomen habe ich in meinem Buch in dem Kapitel „Vulgarität“ behandelt. Außerdem habe ich auch ein Kapitel mit dem Titel „Lob des Spießers“ eingefügt. „Manieren haben auch mit Identität zu tun“ In dem Sie den biederen, aber ehrlichen Kleinbürger gegen die Anmaßung „intellektueller“ oder „weltläufiger“ Verächter in Schutz nehmen. Asserate: Als ich nach Deutschland kam, waren die gemeinhin als „Spießer“ gebrandmarkten Kleinstädter für mich die wahren Deutschen, so wie ich sie mir in Afrika zurechtgeträumt hatte. Sie hatten eine unverwechselbare Form, und es war ihnen auch wichtig, formvoll zu sein. Sie liebten Traditionen. Sie feierten die Familienfeste und Weihnachten in überlieferter Weise. Sie erkannten die grundsätzliche Notwendigkeit, als würdiger Mensch Manieren zu haben. Natürlich waren sie „kleine Leute“, die sich geschmacklich vergriffen, aber der hochmütige Vorwurf des „Spießertums“ gegen sie war selbst schon gefährlich nahe am Spießertum. Was die Weltläufigen vergessen, ist, daß der Spießer – anders als die meisten von ihnen – immerhin eine Idee der Würde hatte. Die Deutschen also ein Volk ohne Würde? Asserate: Das ist zu weitreichend formuliert. Der Zeitgeist in Deutschland mag wenig von Begriffen wie Würde oder Ehrgefühl halten, aber das betrifft nicht die Deutschen. Viele haben den Bezug zu ihren Traditionen nicht verloren. Warum ist die Tradition so wichtig für die Würde? Asserate: Weil ein Mensch ohne Traditionen keine Wurzeln hat, auf die sich sein Ehrgefühl beziehen könnte. Weil ein Mensch ohne Traditionen keine Demut kennt, da er nur sich kennt, beziehungsweise sich an die erste Stelle setzt. Demut aber ist die erste Voraussetzung, um anderen mit Rücksicht zu begegnen. Ich spreche dabei nicht von Demut im Sinne von Untertanenschaft, sondern von Demut, wie sie der Glaube lehrt. Ein Mensch, der Demut hat, hat eigentlich alles über Manieren gelernt und braucht im Grunde gar keine Benimm-Regeln mehr. Was ist der Grund dafür, daß die Deutschen 1968 Würde und Traditionen preisgegeben haben? Asserate: Unbezweifelbar haben die Deutschen seit Jahrzehnten ein Problem mit ihrem nationalen Selbstbewußtsein. Ich kenne kein Volk, daß so unsicher, so unzufrieden und so hart gegen sich selbst ist wie die Deutschen. Ich beobachte, daß es zum Beispiel keinen Deutschen gibt, dem es unterliefe, wie ein Amerikaner vor Ergriffenheit zu weinen, wenn er seine Nationalhymne hört. Aber ich halte es für eine Notwendigkeit, daß die Deutschen wieder zu sich selbst finden. Sollten sie das nicht, können sie auch nicht mit der Achtung anderer Völker rechnen. Manieren haben auch mit Identität zu tun. Es ist übrigens ein interessantes Phänomen, daß es immer wieder Ausländer sind, die die Deutschen, und Nicht-Europäer, die die Europäer an ihre großen Traditionen erinnern. Gleichzeitig verachten die Nicht-Europäer die Europäer gerade für das, worauf die Europäer heute meist besonders stolz sind, zum Beispiel ihre religiöse Indifferenz. Asserate: So ist es, und wenn Sie von der Religion sprechen, dann sind es heute die Länder der südlichen Hemisphäre, die das große Erbe eines selbstbewußten Christentums hochhalten, das sie oftmals – allerdings nicht immer, wie zum Beispiel im Falle Äthiopiens, das seit dem 4. Jahrhundert christlich ist – erst von den Europäern erhalten haben. Allen Ernstes diskutieren die Europäer heute, ob Gott in der EU-Verfassung erwähnt werden soll oder nicht – es ist bizarr! Europa – ein Fall von Dekadenz? Asserate: Ich habe Scheu vor so großen Worten. Erscheint Ihnen angesichts der selbstentmündigenden Tendenz der Europäer, das politische Bestimmen über das eigene Geschick in supranationale Hände abzugeben, der Begriff Dekadenz tatsächlich überzogen? Asserate: Die Europäer scheinen in der Tat als einziges Band der Zusammengehörigkeit auf Wohlstand und Konsum setzen zu wollen. Denken Sie daran, daß zum Beispiel das Grab Christi zu befreien über Jahrhunderte die Herzen der armen und reichen Europäer mit wilden Träumen und der Bereitschaft zu äußersten Opfern erfüllte – der Traum vom beheizbaren Swimmingpool dagegen bewegt die müden Hinterteile schon heute nicht mehr zehn unbezahlte Schritte über die Straße. Von Afrika aus betrachtet scheint es, daß die Lösung de Gaulles vom „Europa der Vaterländer“ auf die Dauer die meisten Chancen haben wird. In Ihrem Buch klingt die Kritik am Niedergang immer wieder an. Haben Sie ein politisches Buch geschrieben? Asserate: Alles kann politisch sein, wie Sie wissen. Habe ich aber eine politische Aussage angestrebt? Nein! Ich habe nur versucht, Manieren zu interpretieren. Immer wieder zeigen Sie, daß der Niedergang der Manieren – also auch der europäischen Identität – mit dem Aufkommen des Egalitarismus zusammenhängt. Ist das nicht eine politische Aussage von sogar erheblicher Tragweite? Asserate: Denken Sie daran, daß mein Buch nicht den Niedergang, sondern das Fortleben der Manieren zum Gegenstand hat. Ich wollte zeigen, daß eine Zeit niemals vollständig mit sich identisch ist. Daß sie von Widersprüchen beherrscht ist, wie etwa vom Egalitarismus und der Sehnsucht nach Manieren. Sie zeigen nicht nur Widersprüche auf, sondern greifen auch offen an, zum Beispiel die political correctness. Asserate: Ich will klarmachen, daß die artifizielle political correctness aus den USA kein Ersatz für die europäischen Manieren sein kann, weil sie eine politische Konstruktion ohne innere Haltung ist. Wenn sie eine politische Konstruktion ist, dann ist Widerstand dagegen – auch wenn er kulturell motiviert sein mag – per se ebenfalls politisch. Es scheint, als könnten Sie sich der politischen Relevanz Ihres Buches nicht entziehen? Asserate: Manieren sind etwas auf den Einzelnen Gerichtetes, während Politik auf die Masse zielt. Dann sind Manieren nicht mehr als eine kulturelle Arabeske. Asserate: Manieren werden immer das Individuum ansprechen. Ich finde nicht, daß das Individuum eine kulturelle Arabeske ist. Sie träumen von einer Art neuem Bildungsbürgertum? Asserate: Ich weiß nur, daß für mich nicht Deutschland das Betätigungsfeld der Politik sein kann, sondern meine Heimat Äthiopien. „Der Staat ist wichtig für die Erziehung zu Würde und Stolz“ Denken Sie an eine Restauration der Monarchie in Ihrer Heimat? Asserate: Vordringlich ist die Lösung der politischen und sozialen Probleme in Äthiopien. Jedoch bin ich Föderalist und Demokrat, und deshalb finde ich, die Frage nach einer konstitutionellen Monarchie sollte dem äthiopischen Volk vorgelegt werden. Die Monarchie als Staatsform der Würde? Asserate: Der Staat spielt eine wichtige Rolle für die Erziehung der Menschen zu einem Begriff von Würde und Stolz. Und für Äthiopien ist die Monarchie das hervorragende Symbol für Einheit und Souveränität des Staates, für die Gleichberechtigung aller seiner Volksgruppen und für die Würde des Einzelnen, der dieser Staatsform angehört. Prinz Asfa-Wossen Asserate ist Autor des von der Kritik hochgelobten Buchs „Manieren“ – kein Ratgeber, sondern eine Art Sittengemälde, eine „Ethnologie unserer Umgangsformen“ (Klappentext). Der Band, der sich auf Anhieb zum Bestseller entwickelte, stellt gleichzeitig eine schöngeistig verpackte, konservative Kulturkritik der Banalität und selbstzufriedenen Überheblichkeit unserer modernen Verhältnisse dar. Asfa-Wossen Asserate ist der Großneffe des letzten christlichen Kaisers, Haile Selassie von Äthiopien. Dessen Sturz und Ermordung 1974/75 durch das kommunistische Mengistu-Regime bedeutete auch für die Familie Asserates Verfolgung und Tod. Geboren 1948 in Addis Abeba, kam er 1968 nach Deutschland, um in Tübingen Volkswirtschaft und die Rechte, später in Cambridge Geschichte und Politikwissenschaften zu studieren. Er promovierte in Frankfurt und arbeitete als Pressechef der Düsseldorfer Messegesellschaft. Heute lebt er als Unternehmensberater in Frankfurt am Main. weitere Interview-Partner der JF