Im Rückblick auf die Berlinwahl ist vielfach – vor allem von Seiten der aufgescheuchten sogenannten „Etablierten“ – die Rede davon gewesen, man müsse nun „ganz genau analysieren“, weswegen vor allem die Piratenpartei einen so immensen Erfolg verbuchen konnte.
Analysen ohne Sinn
Genaugenommen werden ähnliche Phrasen jedesmal gedroschen, wenn ein Wahlergebnis unerwartet ausfällt. Daß sich dann am Ende doch nichts ändert, ist wahrscheinlich weniger dem blanken Unverständnis der zuständigen Parteischergen geschuldet, als vielmehr dem starren Korsett aus Marktkonformität (Angela Merkel dixit), EUrokratie und Denkverboten, das sich die hiesige Politiklandschaft selbst angelegt und mit deutscher Gründlichkeit festgeschnürt hat.
Daß innerhalb dieses exklusiven Mikrokosmos nicht viel Bewegung möglich ist, zeigt sich nicht zuletzt auch daran, daß trotz aller hehren Programme am Ende doch alle den gleichen Knicks vor den üblichen „Sachzwängen“ machen. Und wenn versucht wird, von außen satirisch auf die Mangelerscheinungen dieser unserer Parteienherrschaft aufmerksam zu machen, dann kann man sich stets darauf verlassen, daß deren bürgerliche Sturmscharen schon wissen werden, was mit derartigen Abweichlern zu tun ist.
Warum ausgerechnet die Piraten?
Ein paar Gedanken sollte dann aber doch vielleicht jeder von uns an die Piratenpartei und ihr beeindruckendes Ergebnis in Berlin verschwenden. Zwar nicht unbedingt im realpolitischen Sinne, denn da haben die Demokratie-Freibeuter ja schon hinreichend und unmißverständlich ihre Nichtswürdigkeit bewiesen. Vielmehr dürfte die Tatsache, daß bei einer Wahlbeteiligung von jämmerlichen 59 Prozent aller Stimmberechtigten immerhin noch soviele ihr Kreuz bei einer Ein-Thema-Partei, die in Zukunft im Abgeordnetenhaus sicherlich für einige Heiterkeit sorgen wird, gemacht haben, ein Licht werfen auf den Zustand der Volksseele und ihre Verbundenheit zu den Organen, die letztlich über ihr Wohlergehen bestimmen. Man darf dabei nicht vergessen, daß gerade aus Kreisen frustrierter Konservativer euphorische Stimmen zu vernehmen waren, als die Piratenpartei 2009 die politische Bühne betrat.
Die Berliner Zeitung hat versucht, zu erörtern, weswegen das Land mit sovielen Nichtwählern aufwarten kann. Die Stellungnahmen bieten nicht viel überraschendes: Allgemeine Parteienverdrossenheit, mangelndes Vertrauen in die Regierenden, politisches Desinteresse. Warum aber dann die Piratenpartei als Ausweichmöglichkeit? Nur aufgrund des Jugendfaktors? Sind die Piraten vertrauenswürdiger als andere Parteien?
Einige Tage vor der Wahl kam ich im Verlauf einer längeren Autofahrt in einer Sendung des DLF in den „Genuß“ eines Interviews mit einem Funktionär der Piratenpartei. Er offenbarte die – dort anscheinend verpflichtende – Ahnungslosigkeit, insbesondere in Finanzierungsfragen („Viele Details von solchen Finanzierungsplänen sind ja geheim, und deswegen können wir jetzt noch keine genaueren Angeben dazu machen, ne?“). Immerhin lasse sich seine Partei aber nicht von Unternehmen bezuschussen. Reicht das denn als Zeugnis der Integrität, und kann es einen Vertrauensvorschuß begründen?
„Irgendwas muß man ja wählen, oder so…“
Meine These dazu: Letztlich sind Piratenwähler, netto gesehen, gleichsam Nichtwähler. Sie suchen eine Möglichkeit, ihre fundamentale Unzufriedenheit mit den „Etablierten“ zu artikulieren. Dabei bringen sie es aber nicht über sich, der Urne fernzubleiben – vielleicht ein letztes Mittel, sich selbst zu versichern, daß ihre Meinung in unserer politischen Landschaft doch noch etwas wert ist? In jedem Fall scheint ihnen der Wunsch immanent zu sein, irgendwie eine wie auch immer geartete Änderung herbeizuführen.
Vielleicht auch nur durch eine Verlagerung der Votenschwerpunkte – man denke nur an die mediale Mutmaßung, daß ein Großteil der 8,9 Prozent, die die Piratenpartei in Berlin eingefahren hat, zulasten der Grünen gegangen sei. Die sind als ehemalige „Protestpartei“ (eigentlich ein Oxymoron) längst selbst „etabliert“ und alles andere als Garanten für politische Umbrüche, wenn sich nicht gerade einmal wieder eine allgemeine gesellschaftliche Hysterie ausnutzen läßt.
Es ist und bleibt bedeutungslos
Wer also in Berlin (von echten Überzeugungstätern einmal abgesehen) am vorvergangenen Wochenende die Piratenpartei gewählt hat, der hätte grundsätzlich auch eines der vielen konservativen Kasperletheater wählen können. Allerdings waren die Piratenwähler wohl mit besseren Spürnasen ausgestattet, was Erfolgsaussichten angeht – oder bloß zu kinderfreundlich. Wenn Herr Cohn-Bendit irgendwann einmal zu den Piraten überlaufen sollte, werden wir es wissen; das aber kann man dann wohl doch ausschließen, denn in Brüssel lebt es sich ganz gut, wie man so hört.
So oder so – man sollte dem Überraschungserfolg der Piraten keine allzugroße Bedeutung beimessen. Nun, da sie im Berliner Parlament sitzen, können sie endlich Deutschland und der Welt beweisen, daß sie nicht nur „keine Partei wie die anderen“, sondern ganz und gar „keine Partei“ sind, und danach endlich abtreten. Was ihre ehemaligen Wähler dann tun? Nun, es gibt noch viele schöne Mittel und Wege, marktschreierisch auf sich aufmerksam zu machen – das ließe sich, nachdem wir nun einen Präzedenzfall haben, gewiß in Parteienform gießen. Man muß nur Leute finden, denen wirklich gar nichts zu peinlich ist. Oder es bleibt doch nur wieder das Nichtwählen. Wenn man denn den Mut dazu hat.