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Marc Jongen, ESN Fraktion

Das große Zittern westdeutscher Politiker

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Der politische Streit um den Zugang zu den Stasi-Akten droht sich zu einem veritablen Wintertheater auszuweiten. Was als Zwei-Personen-Stück in der Besetzung mit Bundesinnenminister Otto Schily und der Chefin der Gauck-Behörde, Marianne Birthler, begonnen hat, ist inzwischen zu einer Aufführung mit einer Vielzahl von Statisten geworden, deren Stimmengewirr kaum noch auseinanderzuhalten ist. Im Kern dreht sich der Konflikt um die Frage, ob Stasi-Unterlagen über Personen der Zeitgeschichte weiterhin an Dritte herausgegeben werden dürfen oder nicht.

Anlaß dafür ist der Auseinandersetzung zwischen Schily und Birthler über die Herausgabe von Stasi-Abhörprotokollen über Alt-Bundeskanzler Helmut Kohl. In der Gauck-Behörde liegen zahlreiche Anträge von Medien auf Einsicht in Stasi-Unterlagen über Kohl vor. Birthler will die Stasi-Protokolle über abgehörte Telefongespräche Kohls ab Januar Dritten zugänglich zu machen. Die Behörde steht auf dem Standpunkt, daß private Informationen über Kohl zwar nicht veröffentlicht werden dürfen. Anders verhalte es sich aber mit Unterlagen zu ihm als Person der Zeitgeschichte. Kohl will die Behörde nach Angaben seiner Anwälte mit einer Klage vor dem Berliner Verwaltungsgericht zwingen, die Unterlagen nicht herauszugeben, da der DDR-Geheimdienst die darin enthaltenen Informationen durch das Abhören von Telefongesprächen rechtswidrig gewonnen habe.

Der Sprecher des Bundesinnenministeriums sagte vor Journalisten, über die Frage der Herausgabe der Kohl-Akten hätten mehrere Gespräche mit Birthler und ihrem Vorgänger Joachim Gauck stattgefunden. Solange diese Gespräche andauerten, gebe es keinen Grund, das Kabinett mit dem Thema zu befassen. Er bezog sich damit auf einen Bericht des Nachrichtenmagazins Der Spiegel, Schily wolle Birthler notfalls über einen Kabinettsbeschluß daran hindern, Akten über Kohl und andere Prominente an Journalisten und Historiker weiterzugeben. Wegen der komplexen Fragen im Zusammenhang mit den Stasi-Unterlagen sei in nächster Zeit nicht mit einer Entscheidung zu rechnen.

Für eine offene Diskussion über eine mögliche Gesetzesänderung hat sich Marianne Birthler ausgesprochen. "Die politische Frage, die sich stellt, ist: Wollen wir dieses Gesetz so, wie es ist und wie es genutzt wird", sagte sie der Financial Times Deutschland (Montagsausgabe). Die Diskussion über den Umgang mit Stasi-Akten müsse auf zwei Ebenen geführt werden, so Birthler. Zum einen müsse geklärt werden, ob die Stasi-Akten-Behörde nach bestehendem Recht gesetzeskonform handele. Auf der anderen Seite stelle sich die Frage, ob "wir jetzt – nach zehn Jahren – ein anderes Gesetz wollen".

Birthler betonte, daß eine Herausgabe der Kohl-Akten keinesfalls ungewöhnlich wäre. "Wir haben in den vergangenen Jahren in durchaus vergleichbaren Fällen des öfteren Wissenschaftlern und Journalisten solche Daten zur Verfügung gestellt", erklärte sie in der Financial Times Deutschland. Darunter seien Unterlagen über den sozialdemokratischen Altkanzler Helmut Schmidt, den früheren bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß (CSU) sowie den früheren Bundesminister und SPD-Fraktionsvorsitzenden Herbert Wehner gewesen.

Warum die Diskussion über das Stasi-Unterlagen-Gesetz zu diesem Zeitpunkt überhaupt wieder hochkocht, liegt für Hubertus Knabe auf der Hand. Solange die Stasi-Aufarbeitung fast ausschließlich ehemalige DDR-Bewohner betraf, habe sich niemand daran gestört, "daß Scharen von Historikern und Journalisten die rechtsstaatswidrig angelegten Unterlagen in Augenschein nahmen", weiß der Autor des Buches "Die unterwanderte Republik – Stasi im Westen" zu berichten. "Erst als im Zuge der Recherchen deutlich wurde, daß die Stasi-Aufarbeitung auch die westdeutsche Politik berührt, formulierte sich wieder das alte Unbehagen", schrieb Knabe in einem Beitrag für die Tageszeitung Die Welt.

Unterdessen droht der Konflikt um die Stasi-Akten auch die rot-grüne Koalition zu entzweien. Zu den Plänen von Schily, die Weitergabe von Unterlagen über Personen der Zeitgeschichte durch die Gauck-Behörde per Weisung zu unterbinden, heißt es in einer Erklärung der Landesvorsitzenden und Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen in den neuen Ländern, das Stasi-Unterlagengesetz sei in einer historisch einmaligen Situation verabschiedet worden, "um eine umfassende historische und politische Aufarbeitung der Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes zu ermöglichen und die von der Bürgerbewegung der DDR begonnene Auseinandersetzung mit dem ’System Staatssicherheitsdienst‘ zu Ende zu bringen."

Die bisherige Arbeit der Gauck-Behörde habe gezeigt, "daß die Bewältigung dieser Aufgabe nur möglich war und ist, wenn Informationen über Politiker, Amtsträger und Personen der Zeitgeschichte mit in die Verwendung einbezogen werden". Gerade unter den Vertretern der Bürgerbewegung in den neuen Bundesländern gebe es aus den diktatorischen Erfahrungen heraus eine geschärfte Sensibilität dafür, daß der Umgang mit der rechtlich schwierigen Frage der Verwendung von Stasi-Protokollen sorgfältig abgewogen werden muß. Bei der Auslegung des Gesetzes dürfe aber der ihm zugrunde liegende Aufarbeitungszweck nicht vernachlässigt werden. Diese Aufarbeitung sei noch nicht vollständig geleistet, meinen die Grünen-Politiker. Es erscheine mehr als fragwürdig, "daß eine zehn Jahre lang erfolgreich geübte Praxis auf der Grundlage des existierenden Stasi-Unterlagengesetzes nun, da es vor allem auch um die Überprüfung westdeutscher Persönlichkeiten und Ereignisse gehen soll, grundlegend verändert werden soll".

Die Landespolitiker appellierten an die politisch Verantwortlichen, "einem so gravierenden Einschnitt in die bisher zur Aufarbeitung der Stasi-Tätigkeit erfolgreich geübte Praxis auf keinen Fall zuzustimmen".

Unterzeichnet ist die Erklärung von Inès Brock und Thomas Bichler (beide Sachsen-Anhalt), Jürgen Suhr (Mecklenburg-Vorpommern), Pino Oblrich und Karl-Heinz Gerstenberg (beide Sachsen), Roland Vogt (Brandenburg) und Astrid Rothe (Thüringen) sowie von Undine Kurth, Mitglied im Grünen-Bundesvorstand.

Kritik an Innenminister Schily kommt auch von dem innenpolitischen Sprecher der Grünen, Cem Özdemir. Im Berliner InfoRadio sagte der Bundestagsabgeordnete, daß es keine Einmischung der Bundesregierung in die Arbeit der Stasi-Akten-Behörde geben dürfe: "Die Unabhängigkeit der Birthler-Behörde ist eines der höchsten Güter, die wir haben. Das wird mit uns nicht kaputtzumachen sein."

Widerspruch erntet Schily auch von dem Staatsminister im Bundeskanzleramt, Rolf Schwanitz (SPD). Die Herausgabe von Stasi-Unterlagen über Personen der Zeitgeschichte dürfe nicht generell verboten werden, sagte Schwanitz der Chemnitzer Freien Presse.

 Dagegen sprach sich die Vorsitzende des Innenausschusses des Bundestages, Ute Vogt (SPD), gegen eine Veröffentlichung der Stasi-Unterlagen über Helmut Kohl aus. Die Akten beruhten weitgehend auf illegal abgehörten Telefongesprächen, sagte die Spitzenkandidatin für die baden-württembergische Landtagswahl im März der Stuttgarter Zeitung. "Illegal erworbene Informationen dürfen nicht verwendet werden", so Vogt. Der Schutz der Privatsphäre sei ein sehr hohes Rechtsgut. "Die Gauck-Behörde wird in diesem speziellen Fall, in dem es um die Akten Kohls geht, eine Einschränkung ihrer Freiheit hinnehmen müssen", erklärte die SPD-Politikerin.

Diese Ansicht wird auch von dem früheren DDR-Bürgerrechtler und heutigen CDU-Bundestagsabgeordneten Arnold Vaatz vertreten. Eine Herausgabe der Abhörprotokolle Kohls wäre "Lichtjahre" von der Intention des Stasi-Unterlagen-Gesetzes entfernt, schrieb Vaatz in einem Gastkommentar der Welt.

Dem widerspricht, ebenfalls in dem Springer-Blatt, der Experte Hubertus Knabe: "Worum es geht, ist, Arbeitsweise und Einfluß des Staatssicherdienstes offenzulegen. Ohne Aktenöffnung war und ist dies nicht möglich. Erst der Blick in die Büchse der Pandora zeigt, wie das SED-Regime agierte – auch im Westen." Genau davor aber hat die politische Klasse Westdeutschlands Manschetten.

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