Herr Pfarrer Creutz, wieso sind Sie nach Ihrer Äußerung, Frau Kantelberg-Abdullah habe ihre Aufsichtspflicht gegenüber dem kleinen Joseph verletzt, zeitweilig vom Dienst beurlaubt worden – die Medien kolportierten, die Kirchenverwaltung habe "Konsequenzen gezogen"?
Creutz: Ich bin nicht um der abgedruckten Äußerungen willen für ein paar Tage beurlaubt worden. Die Freistellung vom Dienst war mit mir abgesprochen. Anlaß dazu war die Rücksicht auf meinen physischen und psychischen Zustand infolge der massiven Angriffe, denen ich ausgesetzt war.
Danach soll es zu Schmäh- und Drohanrufen gegen Sie gekommen sein?
Creutz: Da haben Sie leider recht. Es war schlimm, was Menschen meinen, aus wenigen Sätzen (zumal aus dem Zusammenhang gerissen und so nicht gesagt) herauslesen zu können, und wie sie dies als Anlaß für üble Beschuldigungen und Drohungen nutzen. Daneben gab es auch ernstzunehmende, besorgte Stimmen. Ihre Bedenken waren mehr grundsätzlicher Art, aber für den auslösenden Fall wenig treffend. Zu danken wäre aber allen, die sich um eine differenzierte Sicht bemüht haben, um die es mir eigentlich in dem Gespräch ging, als dessen "Ertrag" dann schließlich die sinnentstellende Wiedergabe erfolgte.
Halten Sie die Erklärung, Frau Kantelberg-Abdullahs Anschuldigungen dienen der Verdrängung der eigenen Schuld, für plausibel?
Creutz: Noch einmal: Es ging mir um eine differenziertere Sicht als die einseitige – aus heutiger Erkenntnis kaum aufrechterhaltbare – vorverurteilende Schuldzuweisung. Ich habe selbst kleine Kinder gehabt und weiß, wie es ist, wenn Kindern etwas zustößt. Auch wenn dafür ein "Schuldiger" gefunden und benannt werden kann, werde ich mir doch selbst vorwerfen und mich fragen: "Hättest du dies nicht verhindern können, wenn …?" Leid (und der Tod eines Kindes ist schlimm!) ist mit der Klärung der Schuldfrage nicht bewältigt.
In Sebnitz werden nun Stimmen laut, Frau Kantelberg-Abdullah wegen Volksverhetzung anzuzeigen.
Creutz: Was soll das bringen? Es begänne dasselbe Spiel der Schuldzuweisungen nur mit umgekehrtem Vorzeichen. Die Verärgerung, wie eine Stadt in Verruf gebracht wurde, ist verständlich. Aber das Beste zum Erweis der Haltlosigkeit solcher Darstellungen wäre nun der beispielhafte Umgang miteinander: Menschen in ihrer Not wahrzunehmen, sich auf Gespräche einzulassen, sich auch einmal etwas sagen zu lassen, ohne sich gleich angegriffen zu fühlen oder gar verurteilt.
Ganz Deutschland hatte sich bereitwillig sofort ein einschlägiges Bild von dem Fall gemacht.Welche Verantwortung tragen die Medien – speziell die "Bild"-
Zeitung?
Creutz: Mit der ersten Zeile der Wiedergabe einer nichtbewiesenen Behauptung, die zudem den für die Untersuchung zuständigen Behörden und ihrem Urteil vorgreift, war eine faire Berichterstattung nicht mehr möglich, wie die Haß- und Schmutzwelle, die auf Sebnitz einschlug, bewies. Wie tief die Vorverurteilung auch jetzt noch sitzt, zeigen die Fragestellungen mancher Reporter noch immer. – Entstandene Schäden sind kaum zu korrigieren. Das Leben ist zu vielseitig und bunt, als daß es sich auf Schlagwörter reduzieren läßt, noch dazu in dem primitiven Schema schwarz-weiß. Wie eine Demokratie steht und fällt mit der Bereitschaft des Einzelnen, sich mit seinen Gaben einzufügen in das große, ihn schließlich auch tragende Miteinander, so steht oder fällt Pressefreiheit mit der Bereitschaft zu sachlicher Berichterstattung. Je größer der Einfluß der Medien auf die öffentliche Meinungsbildung ist, um so höher ist das Maß ihrer Verantwortung. Die Sensationspresse, die Negativ-Berichterstattung, das In-den-Schmutz-Ziehen von Personen (einzelner oder pauschal) oder die Beihilfe dazu sind für mich eindeutiger Mißbrauch des hohen Gutes der Pressefreiheit. Der Philosoph Sokrates hat einmal für die Weitergabe von Nachrichten drei Maßstäbe genannt: die Wahrheit, die Notwendigkeit, die Güte. Diesen "Zensoren" sollten sich die Medien in großer Selbstdisziplin verpflichtet fühlen. Was aber, wenn sie dieser Verpflichtung nicht nachkommen?
Konrad Creutz ist seit 1996 evangelischer Pfarrer in Sebnitz. Im Zusammenhang mit dem "Fall Joseph" wurde er vom 24. bis 28. November von der Kirchenverwaltung vom Dienst beurlaubt.
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