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Buchrezension: Genozid an den Jesiden – „Wir sterben nicht, wir werden umgebracht“

Buchrezension: Genozid an den Jesiden – „Wir sterben nicht, wir werden umgebracht“

Buchrezension: Genozid an den Jesiden – „Wir sterben nicht, wir werden umgebracht“

Eine schwarzgekleidete Frau läuft zwischen Gräbern umher. Es handelt sich um einen jesidischen Friedhof, der an den Genozid an die Jesiden erinnert
Eine schwarzgekleidete Frau läuft zwischen Gräbern umher. Es handelt sich um einen jesidischen Friedhof, der an den Genozid an die Jesiden erinnert
Eine irakische Jesidin besucht am 3. August 2024 ihre Ange-hörigen auf dem Friedhof während einer Gedenkfeier zum 10. Jahrestag des Völkermords an den Jesiden in Shingal / Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Farid Abdulwahed
Buchrezension
 

Genozid an den Jesiden – „Wir sterben nicht, wir werden umgebracht“

Verschleppt, versklavt, ermordet – der Genozid an den Jesiden durch den Islamischen Staat ist eines der grausamsten Menschheitsverbrechen der jüngeren Geschichte. Die kurdischstämmige Autorin Ronya Othmann gibt den Opfern in ihrem Werk „Vierundsiebzig“ eine Stimme und führt den Leser durch ein blutgetränktes Kapitel der Weltgeschichte.
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Unfaßbares Leid, barbarische Verbrechen, Verschleppungen, Verhaftungen, Vergewaltigungen und Folter: Zusammenfassen läßt sich all dies als skrupelloser Versuch, eine ganze Volks- und Religionsgemeinschaft auszulöschen: die Jesiden. Der furchtbaren islamistischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit hat sich die kurdischstämmige Autorin Ronya Othmann in ihrem 500-Seiten-Wälzer „Vierundsiebzig“ angenommen. Die Reportagecollage war im letzten Jahr in der Endauswahl für den Deutschen Buchpreis. Am vergangenen Montag wurde die Autorin für ihr Werk mit dem Erich-Loest-Preis der Sparkasse Leipzig geehrt.

„Schon am ersten Tag des Genozids […] am 3. August 2014 versammelten sich vierzig Männer im Haus der Familie Shesho. Sie sammelten alle Waffen, die sie finden konnten, leichte Waffen, Kalaschnikows und BKC-Maschinengewehre. Der 62jährige Qasim Shesho, der seit den 1990er Jahren in Bad Oeynhausen lebte, dort als Gärtner arbeitete und nur zufällig gerade in seiner Heimat war, dieser Qasim Shesho, sein Neffe Heydar, seine Söhne und die anderen Männer kämpften monatelang, damit Sherfedîn nicht in die Hände des IS fiel. Sie kämpften, das schreibt sich so schnell, mit wenig Munition. Der IS griff im Nebel an, der IS griff im Regen an, der IS umzingelte sie. Sie hatten kaum mehr Munition, und sie ernährten sich von Kastanien und Eicheln.“ Sechzehn Angriffe startet der IS, am Ende ist er nur noch 500 Meter vom Ort entfernt, aber Sherfedîn kann die Terrormiliz nicht einnehmen.

„Oder ist man schon verrückt?“

Wer von den Jesiden schnell genug war, brachte sich im Sindschar-Gebirge – Othmann verwendet die kurdische Bezeichnung Shingal und schreibt „Êzîden“ – in Sicherheit. Dort verteidigten die Verfolgten sich verbissen gegen die nachrückenden Häscher, bis sie schließlich von kurdischen Peschmerga und der YPG-Miliz befreit wurden und so dem für sie vorgesehenen Verhängnis entrinnen konnten.

Sherfedîn ist eine von mehreren Stationen während einer Reise durchs wilde Kurdistan, die Othmann im Oktober 2022 zusammen mit ihrem Vater unternommen hat. Die furchtbaren Ereignisse von damals lassen die 1993 in München zur Welt gekommene Autorin nicht los. Die Tochter eines kurdischen Vaters und einer deutschen Mutter spürt, daß sie als schweres Erbe ihrer Abstammung etwas von der Paranoia in sich trägt, die zur jesidischen DNA gehört – „überlegte Vorsicht“, befragt sie sich selbst, „oder ist man schon verrückt“?

Grund genug dafür gäbe es: Die mohammedanischen Vernichtungsversuche prägen die Geschichte der Volks- und Religionsgemeinschaft, die weder dem Islam noch dem Christentum zuzurechnen ist. „Ferman“ nennen Jesiden sie, und die IS-Massaker von 2014 zählen als Ferman Nr. 74.

Islamisten machen seit langem Jagd auf die Êzîden

Schon in dem Jahrzehnt davor gab es eine Reihe prägenozidaler Übergriffe. Othmann listet sie akribisch auf. 2007 explodierte im irakischen Siba Sheikh Khidir ein Danaer-Geschenk von Al-Qaida, ein LKW – 796 Tote, 1.562 Verletzte –, gar nicht erst zu reden von Saddam Husseins Anfal-Operation: 180.000 Tote durch Giftgas.

Seit Generationen rollt in immer wiederkehrenden kleinen Wellen auch der kulturelle Völkermord durch das blutgetränkte Land, der der Gewalt gegen Menschen einen häßlichen Zwilling an die Seite stellt: 92 zerstörte jesidische Kulturdenkmäler, Tempelanlagen, Kultstätten, werden gezählt. Jahre nach dem Genozid sorgen immer noch türkische Drohnen für Terror in den vom IS verheerten Kurdengebieten.

„Im Jahre 2014 lebten im Irak etwa 500.000 Êzîden. Sie besiedelten zusammenhängende Gebiete im Nordwestirakischen Sindschar-Gebiet und im weiter östlich gelegenen Sheikhan. Im Umkreis des Sindschar-Gebiets lebten bis August 2014 rund 300.000 Êzîden. […] Zum Zwecke der vollständigen Vernichtung der êzîdischen Religion, des Êzîdentums als solchem und seiner Angehörigen in den vom IS besetzten Gebieten vollzog der IS gegen diejenigen Mitglieder der Gruppe, die im Umkreis des Sindschar-Gebiets ansässig waren, zielgerichtet körperliche Zerstörung der Êzîden in ihrer Gesamtheit.“

Auf dem Buchcover on Ronya Othmans "Vierundsiebzig" ist eine nahöstliche Berglandschaft abgebildet
Ronya Othman: Vierundsiebzig. 512 Seiten. Rowohlt-Verlag. Jetzt im JF-Buchdienst bestellen

Insgesamt kamen bis zu 10.000 Jesiden um

Es sind Worte eines vor deutschen Gerichten gegen einen IS-Terroristen aus dem Irak und seine deutsche Kriegsbraut geführten Prozesses, die die auch als Lyrikerin geachtete Autorin verwendet, um das Grauen exemplarisch begreifbar zu machen. Die beiden Angeklagten hielten eine jesidische Mutter und deren fünfjährige Tochter im syrischen Rakka als Sklaven.

Aus einer Laune heraus fesselte der IS-Krieger das Mädchen an ein Außenfenster und ließ es dort im Beisein der hilflosen Mutter verdursten. Insgesamt kamen bis zu 10.000 Jesiden um, 400.000 wurden vertrieben.

Die Autorin hat sich immer wieder auf den Weg in die Heimat ihres Vaters gemacht – zuletzt 2022 –, um das Grauen zu verstehen und seinen Urhebern nachzuspüren, dem sogenannten Islamischen Staat oder Daesch, wie er in einer Verballhornung auch genannt wird („Daesch“ ist das Akronym zur offiziellen Selbsttitulierung der Terrorstaat-Truppe: „Al-Daula al-islamiyya fi-l-Irak wa-l-Scham“, übersetzt: „Der islamische Staat in Irak und Syrien“). Das Buch ist im Kern die literarisierte Dokumentation dieser Reisen.

Die gemeinschaftlich erlittenen Pogrome schweißen zusammen

Es beginnt mit der Recherchereise, die die damals 25jährige im Juni 2018, vier Jahre nach dem Genozid, unternahm. Sie hat noch entfernte Verwandtschaft im Irak, in der kleinen

Ortschaft Silêmanî: Onkel Khalef und Tante Adar mit den drei Kindern Lava, Lara und Lorans. Der Onkel ist zwar weder Bruder noch Schwager ihres Vaters, aber in Kurdistan wird Familie eben etwas weiter gedacht. Die gemeinschaftlich erlittenen Pogrome schweißen zusammen. Die Journalistin stößt auf Massengräber, Spuren der Kämpfe, der ethnischen Säuberung, trifft Opfer und Augenzeugen des Verbrechens. Bekannte von Tante Adar waren Gefangene des IS.

„Sie haben ihren Mann und ihre Söhne vor ihren Augen enthauptet“, berichtet sie über eine von ihnen. Tausende erlitten Ähnliches oder Schlimmeres: Folter, Versklavung, Mord. In Duhok, nördlich von Mossul, trifft sie Akram, der ebenfalls ein Freund der Familie ist. Er lebt zwar wie sie in Deutschland, ist aber in Kurdistan aufgewachsen, spricht die Sprache viel besser und ist der ideale Türöffner.

„Als würde ich mich auf einen Gerichtsprozeß vorbereiten“

Digressiv zwischengeschaltet sind Prozeßprotokolle und die Ergebnisse weitergehender Recherchen. Die Autorin erinnert daran, daß die Jesiden auch bei den jungtürkischen Pogromen gegen Armenier und Griechen ab 1915 unter den Opfern waren. Ferner sind ethnohistorische Einordnungen auf der Grundlage von Forschungen des britischen Archäologen Austen Henry Layard („Auf der Suche nach Ninive“, 1854) Teil der Collage.

Der Erich-Loest-Preis ist angesichts der Relevanz des Themas zweifellos verdient. Nicht verdient ist die Gattungsbezeichnung Roman. Denn „Vierundsiebzig“ gleicht, zumindest im ersten Teil, eher einer zum Buch gebundenen Loseblattsammlung als einer kohärenten Erzählung. Die Autorin weiß das auch selbst. „Was ich schreibe, hat keine Ordnung. Worte, Sätze, die abbrechen, im Nichts verlaufen. Ich nähe, füge zusammen“, beschreibt sie ihre Arbeit. „Wieder Großbuchstaben und Subjekt, Verb, Objekt bis zum nächsten Punkt. Absatz für Absatz. Ich habe keine Sprache.“

Künstlerische Verarbeitung des Unsagbaren oder Hilflosigkeit beim Versuch, die Materialfülle zu bewältigen? „All die Geschichten, die Sprachaufnahmen, Interviews, Screenshots, Protokolle, die täglich mehr werden“, schildert die Deutschkurdin ziemlich genau in der Mitte des Buches ihr Dilemma. „Als würde ich mich auf einen Gerichtsprozeß vorbereiten, den ich hier abhalte, auf dem Papier.“

„Hättet ihr nur den Islam angenommen, wäre das alles kein Problem“

Doch sie profitiert von der Gnade ihrer späten Geburt: Mit dem Etikett „offen in der Form“ oder „dekonstruktivistisch“ auf der Stirn kann heute jeder Autor im Handumdrehen von der Zettelwirtschafterin und Exzerpierchaotin zur literarischen Avantgarde befördert werden.

Immerhin: Die letzten hundert Seiten der Reisebericht-Kompilation brechen mit der Unordnung. Sie schildern chronologisch die Recherchereise, zu der die Journalistin am 1. Oktober 2022 mit ihrem 1959 in Syrien geborenen Vater aufbrach, um sich von Erbil aus in die gesperrte Sindschar-Region durchzuschlagen, für die es weder Visa noch offiziellen Passierschein gibt. Denn das geschundene Gebiet wird von Milizen kontrolliert.

Immer wieder hängen die Reisenden an Checkpoints fest. Sie besuchen Qizil Kund am Fuß des Gebirges. Es war der Wohnort von Othmanns Großeltern, die aus dem türkischen Batman vertrieben wurden. Auch jetzt noch begegnen sie Arabern, die der Meinung sind: „Hättet ihr nur den Islam angenommen, wäre das alles kein Problem.“ Man kann den IS besiegen, aber man bekommt ihn nicht aus den Köpfen. In Deutschland, wo er zum Atheisten wurde, sei er einmal gefragt worden, wie hoch eigentlich die Lebenserwartung in so einem ärmlichen Gebiet wie Kurdistan sei, berichtet Othmanns Vater. Er habe geantwortet, das könne keiner sagen. „Wir sterben nicht, wir werden umgebracht.“

Das Menschheitsverbrechen wird in Sprache überführt

Bei allem Verständnis dafür, sich dem Korsett einer linear verlaufenden Geschichte entziehen zu wollen, wie sie Othmanns Kollege Sherko Fatah in seinem thematisch ähnlich gelagerten Roman „Der große Wunsch“ erzählt hat, der 2023 für den Deutschen Buchpreis nominiert war, leidet die Lektüre über weite Strecken doch erheblich unter der willkürlichen Anordnung des Stoffes. Der Leser kann jederzeit aussteigen, ohne fürchten zu müssen, einen Höhe-, einen dramatischen Wendepunkt oder ein verblüffendes Ende zu verpassen.

Gleichwohl darf „Vierundsiebzig“ auf das verdiente Interesse einer Leserschaft hoffen, für die der Völkermord an den Jesiden bislang wenig mehr war als eine Abfolge von Nachrichtenbildern im Fernsehen, von denen die meisten vergessen sind. In der Schilderung der Erich-Loest-Preisträgerin wird das Menschheitsverbrechen trotz seiner Unsäglichkeit in Sprache überführt, bekommen Opfer Namen und die Jesiden einen beachtlichen literarischen Gedenkstein.

Aus der JF-Ausgabe 09/25.

Eine irakische Jesidin besucht am 3. August 2024 ihre Ange-hörigen auf dem Friedhof während einer Gedenkfeier zum 10. Jahrestag des Völkermords an den Jesiden in Shingal / Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Farid Abdulwahed
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