Es ist das Traurige an unserer geistigen Lage, daß man das überhaupt erklären muß: Warum die Teilnahme des AfD-Chefs Tino Chrupalla und des Ehrenvorsitzenden Alexander Gauland zum 9. Mai an der Feier des „Jahrestages des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg“ in der russischen Botschaft in Berlin beschämend genannt werden muß. Und zwar weniger, weil ein solcher Besuch angesichts der russischen Okkupation in der Ukraine unpassend ist.
Bis in die 1990er Jahre war es für deutsche Politiker ausgeschlossen, sogar an Siegesfeiern der Westalliierten zu Jahrestagen der Landung in der Normandie teilzunehmen. Sowohl weil es die Alliierten als unstatthaft ansahen, als auch weil es auf deutscher Seite noch mehrheitlich als frivol angesehen wurde. Der damalige Fraktionschef der CDU/CSU im Bundestag, Alfred Dregger, brachte es 1984 auf den Punkt: „Das sind Siegesfeiern. Da haben wir nichts zu suchen.“ Gerhard Schröder und Angela Merkel brachen später mit dieser Haltung.
Geschichtsvergessenheit greift um sich
Noch 1995 tobte um den 50. Jahrestag des 8. Mai eine monatelange Debatte. Eine Initiative um die Publizisten Heimo Schwilk, Ulrich Schacht und Rainer Zitelmann veröffentlichte einen Aufruf der sich gegen die einseitige Klassifizierung als „Tag der Befreiung“ wandte. Es drohe in Vergessenheit zu geraten, daß dieser Tag nicht nur das „Ende der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft bedeutete, sondern auch den Beginn von Vertreibungsterror und neuer Unterdrückung im Osten und den Beginn der Teilung unseres Landes“. Ein solches einseitiges Geschichtsbild sei mit einer selbstbewußten Nation unvereinbar.
Es ist ein Zeichen immer weiter um sich greifender Geschichtsvergessenheit, daß es hier kaum noch ein Störgefühl gibt. Die Hunderttausenden vergewaltigten Frauen, die Vertriebenen, die jahrelang in Zwangsarbeit deportierten Soldaten – sie leben fast alle nicht mehr. Es ist still geworden.
Von Befreiung konnte erst 1989/90 die Rede sein
Die Paradoxie des 8. Mai, an dem wir „erlöst und vernichtet in einem“ wurden, wie es der erste Bundespräsident Theodor Heuss 1949 noch treffend formulierte, wird schon lange auf die „Befreiung“ verkürzt. Weil es am bequemsten ist.
Zurück zur russischen Botschaft: Der Sieg der Roten Armee bedeutete nicht nur den Untergang des Dritten Reiches. Die gesamten mittel- und osteuropäischen Nationen kamen einschließlich Mitteldeutschlands vom Regen in die Traufe. Von einer Befreiung konnte überhaupt erst mit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums 1989/90 die Rede sein – in den Augen von Wladimir Putin die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“. Moskauer Siegesfeiern zum 9. Mai fernzubleiben ist deshalb auch eine Frage der nationalen Würde – was gerade geschichtsbewußte Russen gut verstehen dürften.