Vor über einem Jahr ist der russisch-ukrainische Konflikt mit dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine zu einem offenen Krieg geworden. Ein Krieg, der nicht enden will. Auch heute ist die Situation nicht wesentlich anders als vor Kriegsausbruch. Ein Weg aus dem Konflikt ist derzeit nicht in Sicht, obwohl Zehntausende getötet, verstümmelt und verwundet wurden, Landstriche völlig verwüstet sind und die Diplomatie in Scherben liegt. Ein Grund ist, daß über eine wesentliche Kriegsursache nicht gesprochen wird.
Warum wurden im Herbst 2021 die Töne der russischen Außenpolitik zusehends schrill? Warum sah sich die russische Führung im Dezember genötigt, alles auf eine Karte zu setzen und eine offenkundig überhastet geplante Invasion zu starten? Die von ihr öffentlich genannten Gründe mögen zu diesem Krieg beigetragen haben. Doch sie dürften nur vorgeschoben sein. Über ihr eigentliches Motiv schweigt die russische Führung. Es muß aber klar benannt werden, wenn der Konflikt beigelegt werden soll.
Ein Weib, das begehrliche Blicke auf sich zieht
Rußland ist einzigartig, wie der Blick auf den Globus zeigt: Es ist das mit Abstand größte Land der Erde. Sein Staatsgebiet erstreckt sich über weite Teile Eurasiens. In diesem riesigen Gebiet leben etwa 140 Millionen Staatsbürger, davon etwa 100 Millionen Russen. Das macht Rußland mit acht Personen pro Quadratkilometer zu einem extrem dünn besiedelten Land. Zum Vergleich: Der winzige Fleck am südlichen Rand Asiens, Bangladesch, beherbergt 165 Millionen Bengalen; durchschittlich 1.240 Personen pro Quadratkilometer.
Rußlands historisches Glück war, daß früher kaum Interesse an seinen lebensfeindlichen Einöden bestand. Doch nun ist der ungeheure Wert der darunter schlummernden Bodenschätze bekannt. Das macht das Riesenreich zu einem Weib, das begehrliche Blicke auf sich zieht. China und Indien sind hungrige, aufstrebende Nationen an Rußlands Flanken, deren Völker bereits jetzt das Zehnfache an Menschen in die Waagschale werfen können. Was hindert sie daran, sich zu nehmen, was sie wollen?
Nur der beherrscht ein Land, der es verteidigen kann
Der russische Militarismus liegt in dieser prekären Situation begründet. Nur der beherrscht ein Land, der es auch verteidigen kann. Doch das kann Rußland immer weniger. Das Problem ist dabei nicht, daß es zahlenmäßig möglichen Angreifern unterlegen ist – denn auf die Zahl mobilisierter Menschen kommt es bei modernen Streitkräften nicht so an, sondern auf die Fähigkeit einer nationalen Rüstungsindustrie, überlegene Waffen in ausreichender Zahl zu produzieren. Diese Fähigkeit verliert Rußland zusehends.
Ob Robotik oder Künstliche Intelligenz – was auch immer von Forschern als Schlüsseltechnologien für die Zukunft des Krieges ausgemacht wird, Rußland kommt kaum hinterher. Und wo es sich mit großem Aufwand an der Spitze hält, sind seine Produktionskapazitäten beschränkt. Das Aushängeschild der russischen Armee, die Panzerplattform Armata, ist aus der damals noch möglichen Zusammenarbeit mit europäischen Rüstungsfirmen entstanden. Ohne diese steht das Land in der Produktion vor kaum lösbaren Schwierigkeiten. Womit kann sich dann das Land unter Moskaus Herrschaft überhaupt noch behaupten?
Den Schlüssel zur Hölle in der Hand halten
Es ist die größte Atommacht der Erde. Das ist seine Lebensversicherung, den Schlüssel zur Hölle in der Hand zu halten. Da versteht die russische Politik keinen Spaß. Jeder ausländische Staat, der sich in ihr Interessengebiet vorwagt, wird über kurz oder lang mit dem Hinweis auf das Vernichtungspotential russischer Atomwaffen konfrontiert. Es mag befremdlich sein, doch schlußendlich funktioniert russische Außenpolitik ein gutes Stück weit wie die auf den Tisch gelegte Pistole in einem Mafiafilm.
Die Einschüchterung ist dabei wesentlich politischer, nicht militärischer Natur. Denn wer einen Blick auf die Verteilung der landgestützten Atomwaffen in Rußland wirft, wird feststellen, daß kaum welche an den Grenzen zu potentiellen Konfliktpartnern – den Atommächten USA, China, Indien – stehen. Die überwiegende Zahl ist ausgerechnet auf den Teil der Erde gerichtet, auf den Russen seit jeher ihre größten Ängste, Hoffnungen und Wünsche projizieren – nämlich auf uns, auf Europa.
Besser gefürchtet und respektiert, als freundlich belächelt
Besser gefürchtet und respektiert, als freundlich belächelt und übergangen, das ist Prämisse der Außenpolitik Moskaus. Aus ihrer Sicht garantierte das bisher, daß man europäischen Politikern auf Augenhöhe begegnen konnte, daß man von ihnen nicht wie der Bittsteller irgendeines afrikanischen Staates behandelt wurde, um dessen Schürfrechte sich französische mit amerikanischen Firmen balgen. Daran klammert sich die russische Führung mit aller Macht. Und hier verbirgt sich die wahre Ursache für den Krieg.
Als die ersten Atomwaffen in die Arsenale einzogen, hielten Militärs sie zunächst nur für eine neue, mächtige Waffentechnologie. So wie die Erfindung von Kompositbogen, Steigbügel und Schießpulver auch das Schlachtfeld veränderten, aber nicht den Krieg, so glaubte man sie einsetzen zu können. Spätestens mit der Wasserstoffbombe dämmerte es den Beteiligten, daß hier Kräfte entfesselt werden, die nicht länger beherrschbar sind und Freund wie Feind zu Opfern machen. Das ist das Gleichgewicht des Schreckens.
Schrecken der atomaren Eskalation
Jeder hält die Messerklinge an die Kehle des anderen, jeder spürt die Messerklinge des anderen. Und jeder weiß um den Schrecken der Eskalation und wird sich entsprechend diszipliniert verhalten. Doch es ist ein äußerst fragiles Gleichgewicht. Wenn einer glaubt, der andere könne sein Messer nicht mehr einsetzen, sobald er ihm entschlossen die Kehle durchschneidet, wird der Einsatz nicht nur wahrscheinlich, sondern ist sogar geboten, um aus dieser prekären Situation herauszukommen.
Diese gefährliche Lage wurde in den 1960er Jahren erreicht, als die Rüstungsindustrie der USA so leistungsfähig wurde, daß sie Abfangwaffen gegen Interkontinentalraketen zu entwickeln begann. Um aus dieser Eskalationsspirale herauszukommen, wurde 1972 der ABM-Vertrag geschlossen, der Entwicklung und Einsatz von Raketenabwehrsystemen untersagte. Ein kurioser Vertrag, weil hier Staaten bewußt auf ihr Recht auf Schutz verzichteten, eben aus vorangegangener Überlegung.
Putin wurde über den Tisch gezogen
Dieser Vertrag wurde von den USA nach dem Anschlag vom 11. September 2001 gekündigt. Jedenfalls wurde diese Bedrohungslage zur offiziellen Begründung herangezogen. Die Kündigung erfolgte mit Billigung des russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin. Damit wurde Putin, der damals gerade mal ein Jahr im Amt war – man kann es nicht anders sagen –, über den Tisch gezogen. Denn seither entwickeln die USA einen Raketenschutzschild, der sich klar gegen das russische Atomwaffenarsenal richtet.
Der Schild, der seit 2007 als einsatzbereit gilt, soll sich keineswegs nur über das Staatsgebiet der USA erstrecken. Die ersten ausländischen Stützpunkte waren für Polen und Tschechien geplant. Mit diesen wäre aus russischer Sicht das eigene Atomwaffenarsenal – und damit der Einfluß auf die europäische Politik – neutralisiert. Zwar konnten nach massiver Intervention diese Stützpunkte verhindert werden, doch blieb klar – die russische Führung war übertölpelt worden.
Zäsur der russischen Außenpolitik um 2008
Nicht von ungefähr änderte sich in dieser Zeit das Klima der russischen Außenpolitik deutlich. Zu Beginn seiner Präsidentschaft war es noch Putins wichtigstes außenpolitisches Bestreben, in die Nato aufgenommen zu werden. „Rußland ist Teil der europäischen Kultur. Ich kann mir mein eigenes Land einfach nicht isoliert vorstellen von Europa und dem, was wir so oft die ‘zivilisierte Welt’ nennen“, sagte er beispielsweise in einem BBC-Interview. Jetzt aber war der Kipp-Punkt erreicht.
„Ungefähr im Jahre 2008 begann Putin, dem Status quo zu mißtrauen und seinen Machtbereich gegen den Westen auszurichten“, schrieb die kürzlich verstorbene Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer (Grüne). Erst jetzt war die Osterweiterung der Nato auch ein tatsächliches Problem für Rußland. Aber nicht, weil Atomwaffen näher nach Moskau rückten, sondern weil russische Atomwaffen von Europa wegrückten. Rußland fürchtet keinen Atomschlag der Nato-Staaten. Wohl fürchtet es aber, daß wir es nicht mehr fürchten.
Nato-Beitritt der Ukraine droht
Denn im Baltikum ist die Nato und damit eine potentielle Abschußbasis bereits dicht an die russische Hauptstadt herangerückt. Das aber ist für Rußland kein Problem, ebensowenig wie ein Nato-Beitritt Schwedens. Wohl aber ist ein möglicher Nato-Beitritt der Ukraine ein Problem. Denn eine russische Atomrakete, die sich auf den Weg nach Berlin macht, muß über die Ukraine hinweg. Das macht sie zur idealen Basis für einen europäischen Raketenschutzschild.
Hier könnte ein Sperriegel die Bedrohung durch einen russischen Atomangriff frühzeitig wirksam unterbinden. Nimmt man der russischen Führung aber ihr Gewaltpotential, so ist sie aus ihrer Sicht tatsächlich nichts weiter als der Häuptling eines Eingeborenenstamms, der hilflos mit ansehen muß, wie fremde Mächte die eigene Heimat kolonisieren, ausbeuten und ihm vielleicht noch ein kulturfolkloristisches Reservat übriglassen.
Das ist der wahre Grund für den Ukrainekrieg. Was die russische Propaganda als Kriegsgründe angibt, ist vorgeschoben. Wie sollte man den Europäern auch erklären, daß man sich existentiell bedroht fühlt, wenn sie sich nicht länger existentiell bedroht fühlen? So hüllt sich die russische Führung über ihre eigentlichen Absichten in Schweigen, sieht keinen anderen Ausweg und hofft auf einen unmöglichen Sieg. In die Enge getrieben, taumelnd am Abgrund entlang, nur einen Fingerdruck von der Apokalypse entfernt. Wir leben in unruhigen Zeiten. Leider mit Politikern, die diesen Zeiten nicht gewachsen sind.
———————————————
Fabian Schmidt-Ahmad, Diplom-Sozialwissenschaftler und Doktor der Philosophie. Arbeitet als Referent für Öffentlichkeitsarbeit für die AfD-Fraktion im Deutschen Bundestag.