Seltsame Untote, deren menschliche Gesichter nur eine dünne Hülle sind, die sich über gruselige Totenschädel spannt: Wäre „Fairy Tale“ das politisch aufgeladene Buch eines Republikaners, müßte man die so beschriebenen „Nachtsoldaten“, die Finsterlinge der Geschichte, als Allegorie auf das „woke“ Amerika auffassen, aber: Kommando zurück! Stephen King neigt den Demokraten zu, und unreflektierte Sympathie für deren Anschauungen dringt in Äußerungen seines Ich-Erzählers Charlie Reade auch immer wieder mal durch.
Ansonsten ist der Roman aber so wenig politisch wie ein Strickstrumpf. In Scharen bevölkern ihn verwunschene Fabelwesen: große böse Wölfe, blau leuchtende Zombie-Nachtsoldaten, ein garstiger Hoher Lord, ein furchtbares Ungetüm in einem dunklen Brunnen, ein sprechendes Pferd, jede Menge Monarchfalter, Riesenkakerlaken und eine rote Grille mit Grips. King versucht sich mal wieder als Fantasy-King und entführt in eine Märchenwelt. Das, also „Märchenwelt“, wäre auch ein schöner deutscher Titel für das Buch gewesen, das im Herbst 2022 unter seinem englischen Originaltitel im Heyne-Verlag erschien, die deutschen Verkaufsschlagerlisten allerdings längst wieder verlassen hat, womit es weit zurückbleibt hinter den modernen Horrorklassikern, die den Ruhm des Romanciers begründeten. Riesenerfolge wie „Carrie“ (1974), „Shining“ (1977) oder „Es“ (1986).
Referenzen an Michael Ende und Cornelia Funke
Das neue Werk des Gruselkönigs besteht aus zwei Teilen von sehr unterschiedlicher Qualität. Die ersten zwölf Kapitel erzählen die wunderbare Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft: Der fast volljährige Charlie Reade aus Sentry/Illinois, Held und Erzähler des Romans, schildert zunächst in durchaus anrührender Weise das Drama seines noch jungen Lebens: Durch einen tragischen Unfall hat der Junge seine Mutter und um ein Haar auch seinen Vater verloren: an die Alkoholsucht, in die der Verlust seiner geliebten Frau diesen stürzte und mit der Autor King auch persönlich Bekanntschaft gemacht hat.
Charlie schließt, obwohl er den Verdacht, ein „christlicher Fundamentalist“ zu sein, weit von sich weist, einen „Vertrag mit Gott“: Er will ein guter Junge werden, wenn Gott ihm die Gunst erweist, seinen Vater aus dem Höllenschlund der Sucht zurückzuholen. Zu den meisten Büchern von Stephen King gehört eine metaphysische Komponente, die den fantastischen Fiktionen als eine Art wahrer Kern innewohnt, als Bekenntnis etwa wie dieses „Fairy Tale“: „[W]enn ich je die Existenz des Bösen als reale Kraft bezweifelt hatte, als etwas, was getrennt von dem war, was im Kopf und im Herzen von sterblichen Menschen lebte, so war dieser Zweifel jetzt verschwunden.“ Findet sich hier eine Spur zu des Autors eigener Art von Religiosität?
Jedenfalls führt Charlies Pakt mit Gott dazu, daß er sich mit dem anfangs recht schroffen Eigenbrötler Howard Bowditch anfreundet, einem literarischen Zwilling von Ted Brautigan aus dem Novellenband „Hearts in Atlantis“, im gleichnamigen Film von 2001 gespielt von Anthony Hopkins, der auch für Mr. Bowditch die Idealbesetzung wäre. Der exzentrische Alte liegt eines Tages mit gebrochenem Bein vor seinem Haus, einem unheimlichen Anwesen wie in Hitchcocks „Psycho“. Bowditchs Hündin Radar, um die sich später alles drehen wird, hatte den sportlichen jungen Mann durch ihr Bellen auf den Notfall aufmerksam gemacht.
Bezüge zur Bibel und zu vielen Märchentexten
Alle Figuren sind sehr glaubwürdig gezeichnet, und in dem Städtchen Sentry – wie häufig bei Stephen King nachempfunden seiner eigenen Heimat Durham in Maine – fühlt man sich als Leser bald selbst wie zu Hause. Ein Goldschatz in Bowditchs Haus, ein geheimnisvoller Schuppen und der Rätselspruch „Ein Feigling macht Geschenke“ bilden die Verbindung zum zweiten Teil, den Kapiteln 13 bis 32. Der ist länger, trivialer und gruseliger als Teil eins und entspricht damit vermutlich eher dem, was Anhänger vom Meister des Horrors erwarten.
Charlie und Radar geraten darin in ein bizarres Märchenreich, das weniger an das von Lewis Carroll ersonnene Wunderland erinnert, das dessen Heldin Alice erkundet, als an Cornelia Funkes Tintenwelt. Nur daß der Ton in „Tintenblut“ und „Tintentod“, die sich auch in den USA gut verkauften, nie so vulgär wird wie zuweilen bei Stephen King.
Dessen verwunschenes Königreich heißt Empis und steht wie die Fantasiewelt in Michael Endes „Die unendliche Geschichte“, auf die explizit Bezug genommen wird, unter einem bösen Fluch. Während Phantásien allmählich verschwindet, ist in Empis alles auf der Flucht vor einem mysteriösen „Grau“, das sich überall ausbreitet. Gleichzeitig hat Charlie das Gefühl, „zu einem Teil der Geschichte“ zu werden, und da liegt er goldrichtig.
Spielerei mit dem literarischen Kosmos
In der vom Bösen verheerten Stadt Lilimar kommt der 17jährige schließlich einem dunklen Geheimnis auf die Spur, gerät in einem „Tribute von Panem“-ähnlichen, hier „Tjost“ geheißenen Überlebenskampf jeder gegen jeden in höchste Not und wird schließlich zur zentralen Figur eines Befreiungskampfes gegen den Flugtöter, den grausamen König dieser grauen Welt.
Noch gefährlicher als der Flugtöter ist ein unheimliches Wesen namens Gogmagog, dessen Namen man aber wie den von Lord Voldemort in den „Harry Potter“-Büchern besser nicht ausspricht. Dabei ist der so geheim ja eigentlich nicht. Zumindest weiß jeder religiös Vorgebildete, wo King nun diesen Namen wieder geklaut hat: in der apokalyptischen Literatur der Bibel.
Die vielen intertextuellen Referenzen verraten einiges über das Rezept des 870-Seiten-Wälzers: Er ist eine Spielerei mit dem literarischen Kosmos der Textsorte, der er seinen Titel verdankt (etwas, das unter dem deutschen Namen „Märchen“ bereits Goethe unternommen hatte, allerdings in einer viel kürzeren und viel weniger kruden Erzählung).
Charme und Makel
Verweise auf „Rumpelstilzchen“ sind das raffiniert verwendete Leitmotiv von „Fairy Tale“, aber auch „Jack und die Bohnenranke“, „Der Zauberer von Oz“ und viele andere Märchentexte standen Pate. Das verleiht dem Buch zwar im wahrsten Sinne des Wortes einiges an Charme, allerdings auch den Makel eines arg eklektizistischen Gangs durchs belletristische Supermarktregal. Nicht ohne Makel ist auch die gut lesbare deutsche Textfassung von Bernhard Kleinschmidt: Auf welchen Ofen nimmt „ofensichtlich“ Bezug und wie soll man sich „weiße Schatten“ vorstellen?
Am besten, man nimmt „Fairy Tale“ so wenig ernst wie sein Held das Buch „Die Ursprünge von Fantasy und deren Verortung in der Weltmatrix“ aus Mr. Bowditchs Regal und versteht dafür Charlies Bekenntnis: „Ich will kein Disney-Prinz sein“ als wegweisend. Denn das liest sich wie eine ironische Selbstbeschreibung des Autors. Wie das Scheusal von Empis ist er lieber ein „König der grauen Welt“.
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Stephen King: Fairy Tale. Roman. Heyne, München 2022, gebunden, 880 Seiten, 28 Euro.