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Jahrestag der russischen Invasion: Die offene deutsche Frage

Jahrestag der russischen Invasion: Die offene deutsche Frage

Jahrestag der russischen Invasion: Die offene deutsche Frage

Ein Jahr Ukraine-Krieg: Für eine neue europäische Sicherheitsarchitektur kommt es auf Deutschland an
Ein Jahr Ukraine-Krieg: Für eine neue europäische Sicherheitsarchitektur kommt es auf Deutschland an
Ein Jahr Ukraine-Krieg: Für eine neue europäische Sicherheitsarchitektur kommt es auf Deutschland an (Symboldbild) Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Vadim Ghirda
Jahrestag der russischen Invasion
 

Die offene deutsche Frage

Ein Jahr Ukraine-Krieg: Für eine neue europäische Sicherheitsarchitektur kommt es auf Berlin an. Deutschland muß endlich seine Souveränität behaupten, um einen tragbaren Frieden in Europa herzustellen. Ein Kommentar von JF-Chefredakteur Dieter Stein.
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Es war ein Jahr der Desillusionierung. Als russische Panzer am 24. Februar 2022 morgens die Grenze zur Ukraine auf breiter Front überrollten, waren zahllose Militär- und Sicherheitsexperten überrascht. Den monatelangen Aufmarsch von Putins Truppen hatten die meisten als Bluff im Poker mit dem Westen und Kiew abgetan.

Auch in den Tagen danach sollten sich viele Experten weitere Male täuschen, als sie immer wieder rasche Siege der als haushoch überlegen eingeschätzten russischen Armee prognostizieren. Aber: Der russische Vorstoß gegen die Hauptstadt Kiew wurde von ukrainischen Soldaten ebenso zurückgeschlagen wie die Invasion in weiten Teilen des Landes.

Kleine Nationen gegen große Reiche

Nun erstarrt der Kampf seit Monaten. Über tausend Kilometer dehnt sich die Front im Osten der Ukraine. Beide Seiten haben sich eingegraben wie in den Stellungskämpfen der Weltkriege. Vom blutigen Schrecken dieses Abnutzungskrieges machen wir uns jenseits der über soziale Netzwerke kursierenden Propagandafilme beider Seiten kaum einen Begriff.

Mit dem Krieg in der Ukraine zerfiel die Illusion einer tragfähigen Friedensordnung des postsowjetischen Raums in Ostmitteleuropa. Der Zusammenbruch des Warschauer Paktes und die Auflösung der Sowjetunion hinterließen eine Landkarte mit vielen auferstandenen unabhängigen Nationen. Die meisten Grenzen waren Ergebnis der Willkür von Nachkriegsregelungen des Ersten und Zweiten Weltkrieges. Sie bargen den Keim für neuen Streit. Es blieben nur schwach verheilte Wunden, ungelöste ethnische Konflikte und strittige Einflußzonen.

Nationen, die in der Vergangenheit bereits vom Deutschen und Russischen Reich oder der Sowjetunion aufgeteilt und okkupiert wurden, hatten ein verständliches Interesse, sich gegen erneute Unterwerfung zu wappnen. Wer garantiert ihre Sicherheit und schützt sie vor drohender Dominanz durch den übermächtigen Nachbarn? Diese Frage waren die Europäer alleine nicht in der Lage zu beantworten. Die Nato-Beitritte der meisten ostmitteleuropäischen Staaten waren die logische Konsequenz.

Rußland war indes nicht bereit, sich damit abzufinden, daß sich am Ende die großen Flächenstaaten Weißrußland und Ukraine dauerhaft seinem Zugriff entziehen und künftig ebenfalls dem westlichen Bündnis anschließen könnten. Die Chance wurde vertan, eine Zone des Übergangs, eines „Dazwischen“, jenseits von Nato/EU und Russischer Föderation zu etablieren. Mit dem Angriff Rußlands auf die Ukraine ist diese Option Geschichte.

Deutschland verteidigt die ukrainische Nation und gibt die eigene auf

Daß sich keine eigenständige und belastbare europäische Sicherheitsarchitektur entwickelte, liegt im Kern an der Schwäche Deutschlands. Die Wiedervereinigung führte nicht zu einer notwendigen Klärung der Rolle, die die deutsche Nation im Zentrum eines Kontinents spielen sollte, der seine Teilung überwunden hatte und damit auch größere Eigenständigkeit hätte gewinnen können. Die Deutschen, genauer ihre Eliten, traten vor dem 1989 erfolgten Rückruf in die Geschichte die Flucht an, um sich als Nation schnellstmöglich in Europa aufzulösen.

Die deutsche Schizophrenie dieser Tage besteht darin, mit deutschen Panzern die „Auslöschung der ukrainischen Sprache, Kultur und Identität“ (Katrin Göring-Eckardt) zu bekämpfen, gleichzeitig die Aufgabe der eigenen nationalen Identität aber quasi zum Staatsziel erhoben zu haben. Genauso schizophren sind waffenklirrende Bekenntnisse – am schneidigsten von ungedienten grünen Spitzenpolitikern –, die markigen „Ruhm der Ukraine“-Rufe bei gleichzeitiger Verachtung eigener Wehrhaftigkeit, Herabwürdigung des eigenen Soldatentums, Verhöhnung der eigenen Nationalgeschichte.

Gut gemeinte Appelle zwischen Defätismus und Realitätsverweigerung

Das alles kombiniert mit der „feministischen“ Linie der Außenministerin, die allen Ernstes an die „Weltgemeinschaft“ appelliert, die den „Weltfrieden“ garantieren möge. Daß der sich verwirklicht, wird sie aber genausowenig erleben wie all die anderen vor ihr, die der Illusion anhingen, Kriege zu führen, auf daß niemand mehr Kriege führe.

Viel besser steht es auch nicht um gut gemeinte Appelle, die mörderischen Kämpfe durch einen Waffenstillstand und Verhandlungen zu beenden. Soweit es nicht um Defätismus geht oder darum, verdeckt das Spiel Putins zu spielen, handelt es sich auch nur um eine Variante von Realitätsverweigerung gegenüber dem, was das Wesen von Politik ist: die Anerkennung, daß es um Macht geht, um den Gewinn und den Erhalt von Macht, um die Vermeidung des Machtverlusts und des Schicksals, sich der Macht anderer beugen zu müssen. Das aber nicht als Selbstzweck, sondern um die Dauer des eigenen Staates und der eigenen Nation zu gewährleisten.

Ein Staat ohne Atomwaffen ist nur begrenzt souverän

Der Ukraine-Krieg hätte den Deutschen eine Lehre sein müssen, vor allem im Hinblick darauf, daß ihnen die ausschlaggebende Macht – die Souveränität – fehlt. Souverän ist nach einer Feststellung Carl Schmitts, wer über den Ausnahmezustand entscheidet. Solange ein Staat nicht über eigene Atomwaffen verfügt, ist seine Souveränität begrenzt. Glaubt dieser Staat weiterhin generell darauf verzichten zu können, eigene Sicherheit und Verteidigungsfähigkeit zu organisieren, liefert er sich vollständig fremden Interessen aus und ist permanent erpreßbar.

Entsprechend unpolitisch sind pazifistische und neutralistische Aufwallungen von links bis rechts dieser Tage. Wie sichert eine Nation ihre Grenzen, ihre Handelswege, ihre Rohstoffimporte oder beispielsweise die Funktionsfähigkeit von Pipelines? Wie sollte eine deutsche Außenpolitik gestaltet werden, wenn es tatsächlich zur Entstehung eines neuen bipolaren Systems – hier die USA, da China – kommt?

Zur Nato gibt es derzeit keine Alternative

Antworten auf diese Fragen zu geben ist in den letzten zwölf Monaten schwieriger geworden. Es gibt mehr Unwägbarkeiten und Unübersichtlichkeiten als zuvor. Aber soviel steht doch fest: Vollkommen realitätsfern ist, daß Deutschland aufgrund seiner geographischen Lage, seines wirtschaftlichen Gewichts und seiner historischen Erfahrung seine Sicherheit jenseits eines Verteidigungsbündnisses der europäischen Nationen organisiert.

Mangels deutscher und europäischer Atomstreitkraft muß dieses Bündnis auf absehbare Zeit die USA notwendig einschließen. Daß es deshalb zur Nato keine Alternative gibt, ist nach Rußlands Angriff auf die Ukraine auch Schweden und Finnland bewußt geworden. Wenn wir in diesem Konzert westlicher Nationen US-amerikanische Zumutungen und Einmischungen in die Schranken weisen wollen, dann müssen wir endlich mehr Gewicht in die Waagschale legen: politisch, militärisch, mental. Doch vor dieser Anforderung weichen wir noch immer aus.

JF  09/23

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Putin-Biograf und Rußlandexperte, Dr. Thomas Fasbender, warnt in einem Interview vor der russischen Botschaft: Europa steht vor düsteren Zeiten. Deutschland ist im Zentrum globaler Machtkämpfe und der Ukrainekrieg droht das Land zu zerreiben. Wie wird dieser Krieg für alle Akteure enden? Antworten gibt es im vollständigen Interview mit Chefredakteur Dieter Stein.

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