Im Sommer 1943 glaubte die Wehrmacht, nach der gewaltigen Panzerschlacht im Kursker Frontbogen seien die Kräfte der Sowjetunion an Menschen und Material so erschöpft, daß es in dem Jahr an der Ostfront ruhig bleiben würde. Wie schon zuvor hatten sie jedoch das schier unerschöpfliche Potential ihres Feindes unterschätzt. Denn während die deutsche Führung bereits einige Panzerdivisionen auf andere Kriegsschauplätze verlegte, zog das sowjetische Oberkommando (Stawka) erneut eine riesige Streitmacht für ihre nächste Angriffswelle zusammen.
Bis Anfang August wurden rund 1,1 Millionen Rotarmisten, 2.400 Panzer und Sturmgeschütze, 1.300 Flugzeuge und knapp 13.000 Artilleriegeschütze in den russischen Aufstellungsräumen zusammengezogen. Die Pläne Moskaus sahen vor, daß diese Truppen die abgekämpfte Heeresgruppe Süd unter Generalfeldmarschall Erich von Manstein umschließen und aufreiben sollten. Dann sollte im nächsten Schritt das im Frühjahr verlorene Charkow zurückerobert werden.
Am 3. August brach ein dreistündiges Artillerieinferno über die deutschen Stellungen und deren Hinterland der Südostfront herein. Als die Feuerwalze weiterzog, berannten die Sowjets die Verteidiger mit Panzern und Infanterie. Schon nach wenigen Stunden war ein Durchbruch erzielt. Auf 15 Kilometer Breite stießen die Angreifer vor. Erst am Folgetag gelang es gepanzerten deutschen Einheiten, den Angriffsschwung des Feindes aufzuhalten.
Russen attackierten ohne Flankenschutz
Doch am 5. August fiel Belgorod wieder den Russen in die Hand. Nun begann die Rote Armee, ihren Angriff auf Charkow zu konzentrieren. Ihre Verbände schlugen ein Loch in die Frontlinie der Deutschen, das bis auf 50 Kilometer Breite erweitert werden konnte. Es zeigte sich, daß die sowjetischen Generäle aus den Niederlagen der Vergangenheit gelernt hatten und ihre Taktik dem Bewegungskrieg anpassen konnten.
Bei der deutschen Armeeführung brach Hektik aus. Eilig beorderte sie ihre Vorzeige-Divisionen zurück. So oblag es der Wehrmachtsdivision „Großdeutschland“ im Verbund mit den Waffen-SS-Divisionen „Das Reich“ und „Totenkopf“, den Gegenangriff zu führen. Dabei kam ihnen entgegen, daß die Sowjets bei ihrem schnellen Vorstoß die Flanken ungeschützt ließen. Hier konnten die deutschen Verbände ansetzen und in den folgenden schweren Kämpfen immer wieder russische Einheiten zerschlagen. Allerdings machte sich das Zahlenverhältnis während dieser Tage immer deutlicher bemerkbar. Es gelang den deutschen Landsern wiederholt nicht, die umschlossenen Russentruppen am Ausbruch aus den Kesseln zu hindern.
Die Ereignisse offenbarten aber, daß es den Rotarmisten trotz der zahlenmäßigen Überlegenheit nicht gelang, ihre Gegner zurückzudrängen. Hier zeigte sich auch der Vorteil, den die mittlerweile bei den deutschen Truppen angekommenen neuen Panzer vom Typ Tiger darstellten. Zwar waren weder der Tiger, noch der ebenfalls neu eingesetzte Panther aufgrund geringer Stückzahl in irgendeiner Form kriegsentscheidend. Ihre Feuerkraft fügte dem Feind in Schlachten jedoch immer wieder schwere Verluste zu.
Charkow fiel endgültig an die Sowjets
Letztlich konnte die Produktion der störanfälligen Tiger und Panther nie auch nur ansatzweise mit denen der sowjetischen T-34 in seinen unterschiedlichen Ausführungen mithalten. So kamen auf jeden Panther statistisch gesehen neun T-34.
Hohe Verluste mußten die Russen auch beim Kampf um Charkow selbst hinnehmen. Die oft übereilt vorgetragenen Angriffe kosteten vielen Rotarmisten das Leben. Erst als sich die Munitionsvorräte der deutschen Verteidiger dem Ende neigten, erlaubte Hitler schließlich seinen Generälen, ihre Männer abzuziehen, um ein neues Stalingrad zu verhindern. So konnte die Rote Armee am 23. August die Einnahme der ostukrainischen Stadt vermelden.
Rote Armee erkämpfte sich Initiative
Nach dieser vierten und letzten Schlacht um Charkow während des Zweiten Weltkriegs registrierte die russische Seite den Verlust von 1.800 Panzern und 942 Flugzeugen. Bei den Verlusten von Soldaten sind die Zahlen unter Vorbehalt zu betrachten. Sie werden mit rund 256.000 Mann angegeben, wovon 71.000 als tot oder vermißt gelten. Allerdings gehen Historiker davon aus, daß die Zahl der Toten und Verschollenen auch doppelt so hoch sein könnte.
Ähnlich vage sind die deutschen Zahlen, wo von ungefähr 30.000 Verlusten (10.000 tot oder vermißt) ausgegangen wird. Hinzu kommen 300 zerstörte Panzer und Sturmgeschütze und 148 Flugzeuge. Jedoch war es den Truppen von Wehrmacht und Waffen-SS gelungen, sich noch geordnet vom Feind zu lösen. Allerdings sollten sie angesichts der nachrückenden Russen und deren schierer Masse an der Ostfront nicht mehr die Initiative ergreifen können. Der Rückzug aus der Ukraine hatte begonnen.
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Hier finden Sie die weiteren Teile der JF-Serie „Schlachtorte der Ukraine im Zweiten Weltkrieg“:
Erster Teil: Kesselschlacht bei Uman: mit den Verbündeten weiter nach Osten.
Zweiter Teil: Kampf um Kiew1941: „Stehen, halten und notfalls sterben.“
Dritter Teil: Verlustreicher Kampf um Odessa.
Vierter Teil: Charkow 1942: Stalins Generäle sterben den Soldatentod.
Fünfter Teil: Fall Blau: Die Wehrmacht verkalkuliert sich.
Sechster Teil: Über den Don bis Stalingrad.
Siebter Teil: Charkow 1943: „Das Reich“ schlägt zurück.
Achter Teil: Letzte Schlacht um Charkow: Rückzug trotz Abwehrerfolgen.
Neunter Teil: Krim 1944: Hitlers Haltebefehl kostete Zehntausenden das Leben.
Zehnter Teil: Sommeroffensive 1944 bringt Sowjets die Kontrolle über die Ukraine.