Die griechische EU-Abgeordnete Evdoxia „Eva“ Kaili hat die mangelnde Solidarität ihrer Parlamentskollegen mit Griechenland in der aktuellen Krise per Twitter öffentlich kritisiert. Vor allem Deutschland wirft sie Heuchelei vor. Mit der JUNGEN FREIHEIT sprach sie über die Situation in der Region und die Rolle Deutschlands.
Frau Kaili, in Deutschland wird das Verhalten der griechischen Polizei gegenüber Migranten an der Grenze zur Türkei als brutal kritisiert, zu recht?
Evdoxia „Eva“ Kaili: Es überrascht mich wirklich, daß wir kritisiert werden – statt der türkischen Regierung, die mit Tausenden Flüchtlingen so etwas wie eine „humanitäre Bombe“ in unserer Nachbarschaft gezündet hat. Die einzige Gewalt kommt von diesen, die versuchen, von der türkischen auf unsere Seite durchzubrechen. Ich kann Ihnen Photos zeigen – ich habe sie etwa bei Twitter eingestellt – von Tränengasgranaten mit türkischem Etikett! Damit haben sie die Flüchtlinge gegen uns ausgerüstet. Und sie lenken sie mittels Sozialer Medien an solche Stellen an der Grenze, wo der Übergang einfacher ist, damit die Flüchtlinge unser Territorium verletzen. Inzwischen sind am Fluß Evros in der nordostgriechischen Grenzprovinz Thrakien über 15.000 Menschen versammelt und noch mehr an unseren Seegrenzen. Ich bin nicht bereit, solch ein Verhalten zu akzeptieren! Und unsere Polizei und Armee ist nicht „brutal“, sondern verteidigt lediglich unsere Staatsgrenze.
Sie haben öffentlich die mangelnde Solidarität Ihrer Kollegen im EU-Parlament in dieser Krise beklagt.
Kaili: Ja, tatsächlich sprechen etwa meine deutschen Abgeordnetenkollegen leider von angeblicher griechischer Gewalt gegen die Migranten, statt, wie es zutreffend wäre, von türkischer Gewalt – was wirklich beleidigend ist! Dabei tragen Griechenland oder etwa Italien doch einen so großen Teil unserer gemeinsamen Last in der Flüchtlingskrise und beim Schutz des EU-Territoriums. Dafür werden dann Falschnachrichten über uns verbreitet und meine Parlamentskollegen ergreifen in einer Weise Partei, die für mich ebenso überraschend wie befremdlich ist.
„Deutschland macht sich der Heuchelei schuldig“
Etlichen Deutschen gilt das griechische Verhalten an der Evros-Grenze als „rassistisch“.
Kaili: Was? Wie bitte? Ich muß Sie wohl falsch verstanden haben! Ja glauben die denn wirklich, wäre Deutschland an unserer Stelle, ihr Land würde in dieser Situation einfach seine Grenze öffnen? Also ich finde, sie sollten Griechenland lieber unterstützen, als uns so zu beleidigen!
Die deutsche Kanzlerin beklagt immer wieder mangelnde gesellschaftliche Solidarität mit Migranten – übt aber selbst zu wenig Solidarität gegenüber Griechenland?
Kaili: Nun, der türkische Premierminister spricht doch ganz offen davon, die EU zu erpressen, indem er diese armen Menschen mißbraucht. Sie wissen doch, daß er Busse schickt, um sie an die Grenze zu bringen. Der Druck der gegen uns aufgebaut wird, ist offensichtlich. Und ja, in der Tat, Deutschland macht sich der Heuchelei schuldig, als ein Land, das durch seine Lage all dem nicht so ausgesetzt ist wie wir – aber schöne Worte macht, statt uns, die wir an der Front des Geschehens stehen, voll und ganz den Rücken zu stärken. Das wäre Solidarität!
Es war allerdings absehbar, daß wohl der Tag kommen würde an dem Premier Erdoğan die Tore öffnet. Warum hat Griechenland nicht viel mehr darauf gedrungen, für diesen Fall eine fertige EU-Lösung zu entwickeln – dann würde nun nicht alles auf Ihnen lasten?
Kaili: Das ich nicht lache! Genau das haben wir doch! Ja, wir haben das an jedem einzelnen Tag getan und auf jeder denkbaren politischen Ebene der EU – im Parlament, der Kommission, im Rat etc. Ich selbst habe hunderte von Briefen und Anfragen formuliert, was denn bitte die Strategie der EU sei, wenn das, was jetzt passiert, komme und wie Griechenland diese Lage dann bewältigen sollte. Doch habe ich nie eine ernstzunehmende Antwort bekommen. Und nun spielt man ein „Blame Game“, sprich, schiebt uns die Schuld zu? Und bitte, es ist ja nicht zu spät: Deutschland kann sich auch jetzt noch viel engagierter einbringen und einen größeren Anteil der Last auf sich nehmen! Wenn die deutsche Kanzlerin gerne von christlichen Werten spricht, kann sie diese jetzt zeigen, indem sie uns beisteht und auch mehr der Menschen an der Grenze aufnimmt.
„Diese Invasion Griechenlands klar zurückweisen“
Könnte die Krise nicht bald schon wieder vorüber sein, weil sich die erschreckte EU mit Premierminister Erdoğan einigt?
Kaili: Das hoffe ich! Aber nur die Spannungen an unserer Grenze wären dann vorbei – nicht aber die Krise. Denn die besteht weiter: Schließlich provoziert die Türkei weiterhin mit Gasbohrungen an der zypriotischen Grenze und mit Seebohrungen gemeinsam mit Libyen an der Grenze zur EU, denen niemand Einhalt gebietet. Und nun die Invasion Griechenlands am Evros, die mit aller Klarheit zurückgewiesen werden muß! Um diese Krise wirklich zu beenden, brauchen wir einen echten Dialog, der endlich wahrhaftig und nicht mehr verlogen ist, der alle kritischen Streitpunkte klar und couragiert benennt und der nicht nur eine Lösung für die EU, sondern auch für die Mitgliedsstaaten, für Länder wie Griechenland und Italien bringt!
Was, wenn es keine Einigung mit Premier Erdoğan gibt und die Spannungen an der Grenze nicht abnehmen? Wird Griechenland dann die Grenze auch weiterhin schützen oder irgendwann damit beginnen, Einwanderer Richtung Mitteleuropa durchzuschleusen?
Kaili: Griechenland respektiert das Völkerrecht, die Interessen der anderen EU-Mitgliedsstaaten und die offiziellen Gepflogenheiten. Wir müssen – wenn die Spannungen nicht abnehmen – Wege finden, indem wir die Lage in der EU diskutieren. Zum Beispiel haben die USA vor wenigen Tagen erst eine Verständigung mit den Taliban erzielt, so daß Wirtschaftsflüchtlinge dorthin zurückkehren können. Ähnliches müßte uns in der EU auch im Fall Syrien gelingen, etwa die Einrichtung von Friedenszonen dort, in die syrische Flüchtlinge zurückkehren können. Die Öffnung unserer Grenze aber – außer natürlich zu anderen EU-Staaten – kann dagegen auf keinen Fall eine Option sein!
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Evdoxia „Eva“ Kaili ist Abgeordnete des Europäischen Parlaments für die sozialdemokratische Partei Griechenlands PASOK. Zuvor war die ehemalige Journalistin, die 1978 in Thessaloniki geboren wurde, Mitglied des Griechischen Parlaments.