Sozialabbau – Wer darauf hinweist, daß Deutschland über seine Verhältnisse lebt und ein solider Staatshaushalt nicht zu haben ist, „ohne den Sozialstaat und die von ihm mitgeschleppten Apparate drastisch zusammenzustreichen“, braucht auf diesen Totschlage-Vorwurf nicht lange zu warten. Deshalb einige Anmerkungen zur Versachlichung und zum Weiterdenken:
Sozialausgaben reduzieren heißt nicht automatisch, knapsenden Kleinrentnern und Hilfeempfängern die Bezüge zu kürzen. Denn bei den Empfängern sozialer Leistungen landet keineswegs der Löwenanteil der öffentlichen Sozialausgaben – das meiste versickert unterwegs. Ein libertärer Blogger hat nachgerechnet – rund ein Drittel der deutschen Jahreswirtschaftsleistung fließt in soziale Fürsorge: „Laut Sozialbericht der Bundesregierung wurden im Jahr 2009 754 Milliarden Euro von Staat, Ländern und Kommunen für soziale Hilfen und Dienste ausgegeben. 153 Milliarden Euro gab nur der Bund 2010 für Soziales aus. Das BIP in Deutschland lag 2009 bei 2,39 Billionen Euro.“
754 Milliarden – dafür könnte man den 11,5 Millionen „Armen“ in Deutschland und noch einer guten Million Betreuern ein fürstliches Direktsalär von 60.000 Euro jährlich bezahlen – oder 5.000 im Monat netto. Tut man natürlich nicht. Wo aber bleibt das Geld? Der Spiegel hat im Januar den „Hartz IV“-Komplex betrachtet: „49 Milliarden Euro haben der Bund und die Kommunen 2010 für Hartz-IV-Empfänger ausgegeben […]. Doch nur ein Teil des Geldes, 24 Milliarden Euro, ist unmittelbar für die Betroffenen bestimmt. Der Rest fließt in eine Branche, der es umso besser geht, je mehr Menschen auf staatliche Hilfe angewiesen sind.“
Sozialbürokratieabbau ist kein Sozialabbau
Das ist arg zugespitzt; doch selbst eine der Soziallobby nahestehende Studie, die diese Zahlen kritisch überprüft hat, kommt nicht umhin einzuräumen, daß hohe Milliardenbeträge in die Verwaltungskosten und in „Leistungen zur Eingliederung in Arbeit“ fließen. Und die bringen unterm Strich eben nun mal nur die in entsprechenden Maßnahmen und Einrichtungen beschäftigten Sozialarbeiter dauerhaft in Lohn und Brot.
Von den öffentlichen Sozialausgaben lebt die wuchernde und florierende Sozialindustrie entschieden besser als die Endempfänger. Gegen Einschnitte und Kürzungen wehren sich die Sozialprofiteure natürlich, indem sie ihre Schützlinge vorschieben. Wir sollten darauf nicht reinfallen: Sozialbürokratieabbau ist kein Sozialabbau.
Wie jede Bürokratie lebt auch die Sozialbürokratie davon, ihren Bedarf selbst zu schaffen und zu vermehren. Sie hat potentiell gar kein Interesse daran, ihre vorgeblichen Ziele zu erreichen und Hilfe- oder Integrationsbedürftige auf eigene Beine zu stellen, denn dann verlöre sie ja auf Dauer ihre Existenzberechtigung. Der verantwortungsbewußte Bürger ist ihr suspekt, sie bevorzugt den unmündigen Betreuungsfall.
Vollkasko-Mentalität begünstigt Wachstum der Sozialindustrie
Das stetige Wachstum der Sozialindustrie geht einher mit der fortschreitenden Entgrenzung des Kreises der Empfangsberechtigten. Die Identifikation immer neuer Objekte wohlfahrtsstaatlicher Bevormundung wird von der Vollkasko-Mentalität einer alternden und ängstlichen Gesellschaft begünstigt, in der bei jedem auftauchenden Problem hektisch nach staatlichen Maßnahmen und Lösungen gerufen wird.
Kein Wunder also auch, daß die Integrationsindustrie die am raschesten wachsende Branche der Sozialindustrie geworden ist. Hier sprengt die Entgrenzung alle Maßstäbe. Solidarität braucht ein Wir, setzt das nationale Zusammengehörigkeitsgefühl eines Volkes voraus, das auf Faktoren beruht – Abstammung, Sprache, Geschichte, Traditionen, Kultur –, die der tagespolitischen Beliebigkeit enthoben sind. Wo jeder mit jedem solidarisch sein soll, ist es am Ende keiner mit keinem.
Wo die Solidarität auf Gegenseitigkeit außer Kraft gesetzt ist, bleibt nur noch nacktes Anspruchsdenken. „Der Schlüsselsatz im deutschen Steuer- und Sozialstaat heißt nicht: ’Arbeiten Sie!‘ oder ’Seien Sie fleißig!‘ oder ’Lassen Sie sich etwas einfallen!‘, sondern ’Stellen Sie einen Antrag!‘“ – brachte es Konrad Adam vor einigen Jahren auf den Punkt.
Ständige Frischgeldzufuhr nötig
Auf meinem Schreibtisch liegt gerade ein Bündel Hochglanzbroschüren in sechs Sprachen aus dem Hause von der Leyen, das dem desinteressierten Prekariat aus aller Herren Länder in der jeweiligen Muttersprache die Segnungen des verschmähten „Bildungspakets“ nahebringen will. Wo der Wunsch nach steuerfinanzierten staatlichen Wohltaten erlahmt, gibt man noch mehr Steuermittel aus, um ihn zu stimulieren: Das ist das perpetuum mobile der Sozialindustrie, das allerdings einen entscheidenden Haken hat – es läuft nicht ohne ständige Frischgeldzufuhr.
In der Summe führt das zu einer gigantischen Verschwendung nicht nur von finanziellen Ressourcen, sondern auch von Arbeitskraft. Kann sich ein von demographischem Schwund und angeblich dramatischem „Fachkräftemangel“ gezeichnetes Industrieland tatsächlich leisten, einen wachsenden Anteil seiner Berufstätigen und Hochschulabsolventen ihre Arbeitszeit mit Kassierertraining im Spielkaufladen für Langzeitarbeitslose oder Frauentöpfern für Migrantinnen verplempern zu lassen, statt wertschöpfend zu arbeiten?
Cora Stephan vergleicht in ihrer Anti-Merkel-Philippika den VEB Sozialindustrie mit der „DDR, wo alle beschäftigt waren, aber niemand eine Arbeit hatte“. Sozialpädagogen in die Produktion – wohl nicht das schlechteste Rezept für den Weg aus der Krise.