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Buchrezension: Gründete eigentlich Wilhelm I. das Deutsche Reich?

Buchrezension: Gründete eigentlich Wilhelm I. das Deutsche Reich?

Buchrezension: Gründete eigentlich Wilhelm I. das Deutsche Reich?

Auf einer alten schwarz-weiß-Zeichnung sieht man, wie Wilhelm I. von Preussen im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles zum Deutschen Kaiser ausgerufen wird – Reichsgründung 1871
Auf einer alten schwarz-weiß-Zeichnung sieht man, wie Wilhelm I. von Preussen im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles zum Deutschen Kaiser ausgerufen wird – Reichsgründung 1871
Reichsgründung 1871 – Wilhelm I. von Preussen wird im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles zum Deutschen Kaiser ausgerufen. Foto: picture-alliance / akg-images | akg-images
Buchrezension
 

Gründete eigentlich Wilhelm I. das Deutsche Reich?

Wilhelm I. galt lange als der König, der der Reichsgründung passiv zusah – doch neueste Forschungen belegen: Er war maßgeblich an der Einigung Deutschlands beteiligt. War der Preußenkönig tatsächlich mehr als nur Bismarcks Marionette?
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Zu Gast in Baden-Baden brach Wilhelm I. am frühen Morgen des 14. Juli 1861 zum Sonntagsspaziergang in die Umgebung der Sommerhauptstadt Europas auf. Wie gewöhnlich war der König von Preußen ohne Personenschutz unterwegs, so daß es Oskar Wilhelm Becker, einem Leipziger Studenten, leicht fiel, ein Pistolenattentat auf den Monarchen zu verüben. Aber wie durch ein Wunder verfehlte die auf kürzeste Entfernung abgefeuerte Kugel ihr Ziel, Wilhelm blieb unverletzt, herbeigeeilte Helfer überwältigten Becker. Über dessen Motiv ein Notizzettel aufklärte, den sie ihm aus der Brusttasche zogen: „Ich werde auf den König von Preußen schießen, weil derselbe die Einigkeit Deutschlands nicht herbeiführen kann.“

Lapidar drückte Becker aus, was seitdem Generationen von Historikern über diesen Herrscher kolportierten: unfähig oder unwillig gewesen zu sein, Preußens Macht einzusetzen, um aus den vielen Staaten des Deutschen Bundes den einen Nationalstaat zu formen. Daß am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal des Versailler Schlosses trotzdem das zweite deutsche Kaiserreich aus der Taufe gehoben werden konnte, so lautet bis heute das historiographische Mantra, sei das Verdienst des eigentlichen Reichsgründers, des „allein wahrhaft Wollenden und Vollstreckenden“ (Erich Marcks, 1915) Otto von Bismarck gewesen.

Der „Bismarckmythos“ mußte systematisch ausgewertet werden

In all den Kämpfen zwischen 1862 und 1871, so resümiert es Karl Pagel 1936 in „Die Großen Deutschen“, sei Wilhelm I. ein von Bismarck „Geführter“ gewesen, dessen Größe darin bestanden habe, sich unterordnen zu können, um die ihm vom späteren Reichskanzler aufgedrängten Forderungen des preußischen Staates und des deutschen Volkes zu erfüllen.  Daß mit Pagel ein Verlagslektor und kein Ordinarius der ersten Historikergarde mit diesem Porträt beauftragt worden war, deutet bereits an, wie widerruflich die Wilhelm zugebilligte „Größe“ schon fünfzig Jahre nach dessen Tod war. 1956, in der von Theodor Heuss mit herausgegebenen, neu sortierten Auflage dieses biographischen Bildersaals, fehlt der einstmals so gefeierte „Heldenkaiser“ denn auch.

Für Jan Markert, 2023 an der Universität Oldenburg über „Wilhelm I. und die Hohenzollernmonarchie 1840–1866“ promoviert, klang die Geschichte von „Wilhelm dem Geführten“ zu schön, um wahr zu sein. Sein Mißtrauen nährte sich aus dem Studium von Wilhelms verstaubtem Nachlaß, darunter Abertausende von Briefen, verwahrt im Geheimen Staatsarchiv in Berlin-Dahlem.

Dem Doktoranden genügte eine Überprüfung einschlägiger, den „Bismarckmythos“ popularisierender Standardwerke zur deutschen Geschichte zwischen 1848 und 1890, von Heinrich von Sybel und Erich Brandenburg bis zu Lothar Gall, Thomas Nipperdey und Hans-Ulrich Wehler, um festzustellen, daß niemand von ihnen dieses Material je konsultiert, geschweige denn systematisch ausgewertet hat.

Forscher schrieben voneinander ab

Stattdessen schrieb man über hundert Jahre voneinander ab und folgte kritiklos jenen „Bismarckquellen“, die den Prozeß der Reichseinigung lediglich aus der Perspektive des „Eisernen Kanzlers“ beleuchten – wie zuletzt die zum 200. Geburtstag im April 2015 veröffentlichte Tertiärliteratur.

Es erstaunte Markert daher nicht, daß Wilhelm in solchen aktenfernen Erzeugnissen zum willenlosen Gehilfen des „Heros“ (Marcks) Bismarck schrumpft. Das ist so selbst in der sehr kurzen Reihe umfangreicherer  Biographien, die mit dem ersten Versuch des eingefleischten Bismarckianers Marcks von 1897 beginnt und die bisher endete mit der nur Gedrucktes kompilierenden Arbeit des Journalisten Franz Herres (1980) und dem sich immerhin auf Archivalien stützenden Lebensbild des DDR-Historikers Karl-Heinz Börner (1984).

Bedauerlich ist, daß Markert, wie er im Vorwort verrät, seine ausführliche Musterung einer derart sich blamierenden „Forschung“ nicht in diese Buchausgabe der Dissertation übernahm. Dann wäre auch dem angesprochenen „historisch interessierten Publikum“ schlagartig klar, daß ihm hier als imposanter Kontrast eine grundlegende „Neubewertung der preußischen und deutschen Geschichte zwischen Vormärz und Reichsgründung“ geboten wird.

Auf dem Buchcover von Jan Markerts "Wilhelm I." ist die Krönung des Kaisers und die Reichsgründung zu sehen
Jan Markert: Wilhelm I. 768 Seiten, De Gruyter Oldenbourg, Jetzt im JF-Buchdienst bestellen

Mit der Erfurter Union scheiterte Wilhelm I. krachend

Anhand überlieferter Denkschriften, Tagebücher, Depeschen, vor allem aber anhand seiner ihn mit anderen dynastischen Akteuren in ganz Europa verbindenden Privatkorrespondenz dokumentiert Markert, daß sich der damalige preußische Kronprinz 1848/49, als der „Urpreuße“ (Ernst Engelberg) Bismarck noch nicht über den schwarz-Weißen Horizont hinaus dachte, zum „Spiritus rector der preußischen Deutschlandpolitik“ aufschwang.

Wilhelm verfügte über keinen Masterplan für die Reichseinigung, aber über ziemlich feste, nie revidierte, erstmals in einer im November 1848 abgefaßten Denkschrift fixierte Vorstellungen darüber, wie sich die expandierende Nationalbewegung von der Hohenzollernmonarchie einspannen ließe zwecks eigener postrevolutionärer Stabilisierung und zur Erreichung ihrer innen- wie außenpolitischen Hauptziele: die Vormachtstellung in Deutschland und die Großmachtstellung in Europa zu erringen.

Mit der Erfurter Union, einem 1849 initiierten, 1850 abgebrochenen Versuch verfrühter Nationalstaatsgründung, scheiterte Wilhelm krachend, gewann jedoch weiter an Einfluß als Anwalt der nationalen Mission Preußens. Die er zunächst nicht durch militärische, sondern politisch-diplomatisch durch „moralische Eroberungen“ der öffentlichen Meinung verfolgte, um für die Monarchie den notwendigen Massenanhang zu mobilisieren.

„Politik, Krieg und Frieden mache ich selbst“

Als er 1858 anstelle seines geisteskranken Bruders Friedrich Wilhelm IV. die Regentschaft antrat, behauptete er sich sogleich als starker Selbstherrscher, der ein „persönliches Regiment“ etablierte, das Minister zu Befehlsempfängern des Allerhöchsten Willens degradierte. Dessen Quintessenz er im Juli 1859 schneidig zu Protokoll gab, zwei Jahre bevor er als Wilhelm I. auf dem preußischen Königsthron saß: „Politik, Krieg und Frieden mache ich selbst, passe genau auf, daß die Leute meine und nicht ihre Ideen ausführen.“

Diese goldene autokratische Regel gilt dann seit 1862 auch für seinen neuen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck, der seine starke Stellung im Kabinett nur behauptete, weil er sich auf allen Politikfeldern, mindestens bis 1871, opportunistisch der kompromißlos verfochtenen Richtlinienkompetenz Wilhelms fügte. In ihrer „Bismarckgläubigkeit“ hätten alle Geschichtsschreiber des Kaiserreichs dies von jeher anders gesehen.

Er „capitulierte vor Bismarck und räumte ihm das Feld“

Und ihre Auffassung gegründet auf die Deutung der zum „welthistorischen Datum“ (Lothar Gall) stilisierten Audienz, die der zur Abdankung entschlossene König Bismarck auf dem Höhepunkt des preußischen Verfassungskonflikts, am 22. September 1862, im Schloß Babelsberg gewährte.

Nur gestützt auf Bismarcks Schilderung des Treffens in dessen Memoiren („Gedanken und Erinnerungen“, 1898), sei daraus die Legende gestrickt worden, daß der sich als Retter aus der Not der Verfassungskrise empfehlende „kurbrandenburgische Vasall“ sich bedingungslos seinem königlichen „Lehnsherrn“ zur Verfügung stellte, der ihn zum Ministerpräsidenten und Außenminister ernannte.

Vom vollständigen Einklang seiner politischen Ziele mit denen dieses „Vasallen“ überzeugt, zerriß Wilhelm dann das Regierungsprogramm, auf das er ihn verpflichten wollte, während eines Spaziergangs im Babelsberger Schloßpark. Er „capitulierte vor Bismarck und räumte ihm das Feld“, wie Max Lenz schon 1902 suggerierte und worin ihm Lothar Gall 1980 folgt, wenn er als Ergebnis der Audienz festhält, Bismark habe sich eine Blankovollmacht verschafft, die ihm „politisch fast völlig freie Hand“ ließ, um Preußen Kurs Reichseinigung zu steuern.

Der König hielt Bismarck an der kurzen Leine

Markerts quellenkritische Sondierungen ergeben indes, daß von der „freien Hand“ des Ministerpräsidenten in der Innenpolitik keine Rede sein konnte, in der Außen- und Sicherheitspolitik schon gar nicht. Wie der König Bismarck an der kurzen Leine hielt, lenkte er als Inhaber der Allerhöchsten Kommandogewalt auch seinen Generalstabschef Helmuth von Moltke – mittels modernster Telegraphen-Technologie. Bis zum Starrsinn unbelehrbar, autonom in seinen Entscheidungen, blieb Wilhelm selbst gegenüber seiner Gemahlin Augusta.

Bis 1871 habe ein keineswegs antiquiertes monarchisches System seine Leistungsfähigkeit bewiesen und die Einheit des Deutschen Reiches erreicht, das zu Recht eben Kaiser- und nicht Bismarckreich heißt. Neue Denkmäler seien Wilhelm deswegen aber nicht zu errichten. Denn als eine der zentralen Figuren der modernen deutschen Geschichte sei er nunmehr zwar rehabilitiert. Aber „nicht unbedingt im positiven Sinn“, da dieser Reichsgründer zugleich ein Aufhalter der Demokratisierung Preußen-Deutschlands gewesen sei.

Aus der JF-Ausgabe 26/25. 

Reichsgründung 1871 – Wilhelm I. von Preussen wird im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles zum Deutschen Kaiser ausgerufen. Foto: picture-alliance / akg-images | akg-images
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