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150 Jahre Deutsches Reich: Krumeich: „Ein wichtiger, ein entscheidender Tag“

150 Jahre Deutsches Reich: Krumeich: „Ein wichtiger, ein entscheidender Tag“

150 Jahre Deutsches Reich: Krumeich: „Ein wichtiger, ein entscheidender Tag“

Kaiserreich
Kaiserreich
Reiterstatue Wilhelm I. in Köln, Deutscher Kaiser von 1871-1888 Foto: picture alliance / Horst Ossinger
150 Jahre Deutsches Reich
 

Krumeich: „Ein wichtiger, ein entscheidender Tag“

Am 18. Januar 1871 wurde mit der Proklamation des Deutschen Kaisers unser Nationalstaat geboren. Ein Grund zu feiern? Nein, findet der renommierte Historiker Gerd Krumeich im Interview mit der JUNGEN FREIHEIT. Dennoch sei das Kaiserreich besser gewesen als sein Ruf.
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Am 18. Januar 1871 wurde mit der Proklamation des Deutschen Kaisers unser Nationalstaat geboren. Ein Grund zu feiern? Nein, findet der renommierte Historiker Gerd Krumeich im Interview mit der JUNGEN FREIHEIT. Dennoch sei das Kaiserreich besser gewesen als sein Ruf.

Herr Professor Krumeich, ist die Proklamation des deutschen Kaiserreichs vor 150 Jahren nicht ein Grund zum Feiern?

Gerd Krumeich: Eine gute Frage, die ich so noch nicht gehört habe. Nun, ich würde sagen, nicht zum Feiern, aber zum Erinnern. 

Warum?

Krumeich: Weil es eine sehr bedeutende Wegmarke in der Geschichte Deutschlands war – was man auf jeden Fall memorieren sollte. 

Warum nicht feiern?

Krumeich: Wir „feiern“ ja auch nicht das Ende des Ersten Weltkriegs. Und der 18. Januar 1871 war ebenfalls ein Kriegsende: Gerade hatten die Deutschen einen sehr anstrengenden Feldzug gegen das kaiserliche Frankreich Napoleons III. hinter sich – ja, die nach dessen Sturz organisierte Gegenwehr des republikanischen Frankreichs dauerte sogar noch an. Doch man war siegreich in Versailles eingezogen und hatte die Kapitulation des offiziellen Frankreichs entgegengenommen. Es war also schon eine Siegesfeier, diese Kaiserproklamation des preußischen Königs Wilhelm I. durch die deutschen Fürsten im Spiegelsaal des berühmten Schlosses Ludwigs XIV.

„Für viele Zeitgenossen die Erfüllung aller Träume“

Wir feiern ja nicht den Sieg über Frankreich – dafür gab es im Kaiserreich den Sedanstag –, sondern die Gründung des deutschen Nationalstaats, so wie das traditionell alle Nationalstaaten tun. 

Krumeich: Nein, ich sehe für ein Feiern, also etwa eine Gedenkstunde im Bundestag, wirklich keinen Anlaß. Daß man das Datum nicht feiern kann, zeigt doch schon seine Ambivalenz.

Inwiefern?

Krumeich: Nun, abgesehen vom genannten Charakter einer Siegesfeier damals, sind da noch die Konsequenzen, die aus diesem Ereignis folgten. Deshalb nochmal: Erinnern ja, weil: Ein bemerkenswerter Tag an sich, ein wichtiger Tag für die deutsche Geschichte und ein entscheidender Tag für das Europa der damaligen Zeit. Aber feiern – das hat eben etwas mit Freude zu tun.  

Welches historische politische Datum kann man dann überhaupt feiern, da ausnahmslos jedes auch negative Implikationen hat?

Krumeich: Nehmen wir den 8. Mai 1945, den kann man schon feiern, da er ein Tag der Befreiung war. Oder den 27. Januar, den Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. 

„Auch der französische Nationalfeiertag war nicht immer unumstritten“

Der 8. Mai ging mit Verbrechen bis hin zu Mord an unzähligen Deutschen einher. Und sollten wir den 27. Januar wirklich „feiern“, also Jubel, Trubel, Heiterkeit?

Krumeich: Das ist richtig, doch der 8. Mai ist in erster Linie der Tag des Untergangs des zutiefst unmenschlichen NS-Regimes. Deshalb ist er ja auch in Frankreich heute noch ein Feiertag. Wir brauchen ihn nicht zu feiern, aber ein Gedenktag muß er bleiben. Was Auschwitz angeht, so haben wir, wie ich finde, in den vergangenen Jahren eine Form gefunden, unser aller Entsetzen vor diesen Greueln angemessen auszudrücken. 

Jeder kennt die dunklen Seiten in der Geschichte aller Staaten: Völkermorde, Sklaverei, Angriffskriege, Kriegsverbrechen, Imperialismus, Diktatur, Totalitarismus, ökonomische Ausbeutung etc. Das gleiche gilt für alle Kulturen, Religionen, Ideen, Ideologien, Bewegungen sowie supranationale Organisationen – selbst die Uno hat ja erstaunliche Verbrechen auf dem Kerbholz. Kurz, Feierverbot für die ganze Welt?  

Krumeich: Da ist natürlich etwas dran, an Ihrer Kritik – nehmen wir nur mal den 14. Juli, den französischen Nationalfeiertag als heute im Grunde unumstrittenen Jahrestag von Revolution und Menschenrechten. Das war ja nicht immer so: im 19. Jahrhundert war der Tag zeitweilig sehr umstritten. Dann aber kam der berühmte Satz des späteren französischen Ministerpräsidenten Georges Clemenceau: „La Révolution est un bloc!“

Die Französische Revolution ist ein Block – also, man müsse sie insgesamt annehmen, als einen entscheidenden Teil der französischen Geschichte. Da gibt es dann kein positiv oder negativ mehr, sondern sie ist einfach das Ereignis, das die Franzosen geformt hat und aus dem heraus sie sind. Und in gewisser Weise trifft das auch für die Gründung des Deutschen Reiches vor 150 Jahren zu. Allerdings gilt das nicht nur für 1871. Man sollte auch den 18. März 1848 als den Ursprung dessen feiern, was wir heute sind. 

Lassen Sie uns einfach zweimal feiern: 150 Jahre „Revolution von 1848“ hat diese Zeitung 1998 ebenso mit Sonderseiten gefeiert, wie jetzt 150 Jahre Reichsgründung.  

Krumeich: Allerdings hat der 18. Januar 1871 nicht die überzeitliche Bedeutung wie der 18. März 1848 und die folgenden Monate, da letzteres Datum als Wegmarke nicht nur der deutschen Geschichte, sondern zudem der deutschen Demokratie uns viel näher steht. Es käme mir also nicht in den Sinn, den 18. Januar 1871 so zu feiern, wie die Amerikaner ihren 4. Juli 1776 und die Franzosen ihren 14. Juli 1789.

„Die innere Einigkeit aller Deutschen brachte erst das Augusterlebnis 1914“

Wieso stehen 1848 und 1871 überhaupt in Konkurrenz? Jedes Datum hat seine eminente Bedeutung. Und warum ist Demokratie wichtiger als Staat? Notfalls kann Staat ohne Demokratie wenigstens Grundbedürfnisse sichern. Demokratie ohne Staat kann dagegen gar nichts, wie das Paulskirchenparlament gezeigt hat. Ist denn die Urgründung unseres Staates nicht ein Akt von fundamentaler Bedeutung?  

Krumeich: Das ist natürlich insofern richtig, als sehr viele Zeitgenossen den 18. Januar 1871 als die große Wende, als die Erfüllung aller Wünsche und Träume ansahen. Dies gilt jedoch keineswegs für alle Schichten, zum Beispiel nicht für die Sozialdemokraten, den politischen Katholizismus und auch für viele Konservative. Aber in den liberalen Milieus gab es für das neue Reich, den gemeinsamen Nationalstaat, eine sehr große Begeisterung.

Die wirkliche innere Einigkeit der Deutschen, über alle Milieugrenzen hinweg, brachte dann erst das sogenannte Augusterlebnis 1914, als der Ausbruch des Ersten Weltkriegs Ende Juli/Anfang August eine Welle nationaler Emphase auslöste. Das heißt also, emotional war für die Nationwerdung der Deutschen der August 1914 bedeutender als der Januar 1871. Sogar die Rechten waren 1914 für ein paar Monate mit allen einig. Bevor die Alldeutschen doch wie üblich wieder anfingen zu quäken, die Juden seien an allem schuld.

1871 dagegen war – da trifft die aktuelle Kritik des Historikers Eckart Conze zu – eine Reichsgründung „von oben“. Doch gleichwohl, da haben Sie recht, muß man sich natürlich damit auseinandersetzen, daß von da ab das Deutsche Reich datiert, welches anschließend als Weimarer Republik, nationalsozialistische Diktatur und schließlich als Bundesrepublik Deutschland fortbestand und fortbesteht, wie das Bundesverfassungsgericht 1972 festgestellt hat. Insofern gibt es also einen durchgehenden Strang der deutschen Geschichte von 1871 bis heute, mit allen Höhepunkten und allem Grauen.  

Dennoch gibt es kein offizielles Gedenken, nicht einmal eine Briefmarke, wie noch etwa 1971 zum hundertjährigen Jubiläum. 

Krumeich: Warum eigentlich keine Briefmarke? Das wäre der historischen Bedeutung doch ohne Weiteres angemessen. 

„Verbreitete Überängstlichkeit“

Was glauben Sie, ist der Grund dafür, daß es zum Beispiel keine Marke gibt?

Krumeich: Die verbreitete Überängstlichkeit hierzulande, ob der militaristisch-monarchistischen Umstände der Reichsgründung und des bei uns üblichen Diskurses, das Deutsche Reich sei aus einer Katastrophe geboren worden und in einer Katastrophe untergegangen. Das ist ein Denken, das vor allem durch den Historiker Hans-Ulrich Wehler und sein Buch von 1973 „Das Deutsche Kaiserreich. 1871–1918“ tief in die Köpfe unserer Gebildeten implantiert worden ist. Denn Wehler schlossen sich damals bis auf Thomas Nipperdey die wichtigsten Historiker an, fortan die Katastrophe des Nationalsozialismus isoliert aus der deutschen Geschichte heraus und im Kaiserreich von 1871 gründend zu erklären. 

Was Sie ja kritisieren.

Krumeich: Weil das eine Geschichtserzählung ist, die völlig das vergleichende Moment durch Einbettung in den europäischen und internationalen Kontext vermissen läßt. Das hat übrigens die Historikerin Birgit Aschmann jüngst in einer Rezension in der FAZ zu Recht am neuen Buch von Eckart Conze „Schatten des Kaiserreichs. Die Reichsgründung von 1871 und ihr schwieriges Erbe“ kritisiert, welches diese Linie fortspinnt. Dabei gab es schon zu Wehlers Zeiten sogar im Ausland Widerspruch gegen dessen „deutschen Solipsismus“, wie es der heute so renommierte britische Historiker Richard J. Evans damals schon nannte, also gegen diese deutsche Nabelschau.

„Verglichen mit anderen Staaten, steht das Kaiserreich gar nicht schlecht da“ 

Wie sieht die vergleichende Sicht aus? 

Krumeich: Wenn man das deutsche Kaiserreich mit anderen westlichen Staaten damals vergleicht, dann geht das keineswegs immer zu Ungunsten Deutschlands aus, zum Beispiel was die Lebensbedingungen und sozialen Rechte der Arbeiterklasse angeht. Wenn man betrachtet, wie diese in Frankreich etwa bei Streiks niedergeknüppelt wurde und auf was sie in puncto Sozialleistungen im Vergleich mit ihren deutschen „Genossen“ verzichten mußten, dann steht das Kaiserreich gar nicht schlecht da. Und das war den damaligen Deutschen sehr bewußt. So sagte etwa beim Kongreß der Sozialistischen Internationalen 1904 in Amsterdam SPD-Chef August Bebel zum französischen Sozialistenchef Jean Jaurès, er sei zwar gegen den Wilhelminismus, doch gegen die Französische Republik wolle er die Monarchie nicht eintauschen. 

Der „Lieblingsvorwurf“ gegen das deutsche Kaiserreich ist bekanntlich der des Militarismus. Was ist da dran?

Krumeich: Wenn man darunter wie üblich Militarisierung der Öffentlichkeit, Verehrung der Armee und Aufrüstung versteht, dann war der Militarismus keineswegs typisch für das Deutsche Reich. Denn all das gab es in den anderen Ländern nicht weniger – ja in demokratischen Ländern, wie Frankreich oder die USA, war der Militärkult sogar noch ausgeprägter. Deutschland war im 19. Jahrhundert auch keineswegs „die“ aggressive Macht, sondern vor dem Krieg von 1870 zum Beispiel war das Frankreich.

Napoleon III. wollte unter allen Umständen die „Prépondérance“, also den Vorrang Frankreichs in Europa aufrechterhalten, auch auf Kosten eines Krieges mit Preußen. Und als der dann ausbrach, strömten die Massen in Paris begeistert auf die Straßen. Was in Deutschland damals keine Entsprechung fand. Auch wenn man natürlich, überzeugt davon, einen Verteidigungskrieg zu führen, „begeistert“ gegen Frankreich marschierte.

Bismarck hat als Reichskanzler versucht, eine Großmacht des Friedens nach außen zu etablieren. Gesellschaftliche Aggression hat er stattdessen nach innen, auf die sogenannten „Reichsfeinde“ umgeleitet – also mal auf die Sozialdemokraten, mal auf die Katholiken. Und doch existierte in Sachen Militarismus ein Umstand, den es nur in Deutschland gab. 

„Dies hatte für den Verlauf des Ersten Weltkriegs entscheidende Konsequenzen“

Nämlich?

Krumeich: Das Deutsche Reich war die einzige europäische Großmacht, bei der das Militär keiner politischen Kontrolle durch die Regierung unterlag. In Frankreich, England und den USA mußten sich die Militärs stets den Entscheidungen der Politik beugen. In Deutschland dagegen informierten diese die Regierung, also den (preußischen) Kriegsminister beziehungsweise den Reichskanzler, nicht einmal über ihre Operationspläne!

Die Verletzung der belgischen Neutralität durch den sogenannten Schlieffenplan – also bei einem Angriff auf Frankreich einfach durch Belgien zu marschieren – war kein Gegenstand einer Diskussion zwischen Militärs und Politikern. In Frankreich hatte General Joseph Joffre ganz ähnliche Offensivpläne, wurde aber von seiner Regierung gezwungen, die Neutralität Belgiens zu respektieren. Und dies hatte für den Verlauf des Ersten Weltkriegs entscheidende Konsequenzen.

Das ist bei genauer Betrachtung die einzige faule Frucht, die einen speziellen deutschen Militarismus ausmacht. Alles andere aber, was sonst oft als Beweis dafür angeführt wird, die Uniformen, Paraden, Orden, das Waffengeklirr und der Militärkult, war es nicht. Nur leider setzte sich gerade dieser eine spezielle deutsche Umstand auch nach dem Kaiserreich in der Weimarer Republik fort und wurde erst mit Aufstellung der Bundeswehr als einer Parlamentsarmee aufgehoben.

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Gerd Krumeich Foto: Soeren Stache/dpa

Prof. Dr. Gerd Krumeich ist Experte für Militärgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts sowie die deutsch-französische Geschichte der Zeit. Zudem gilt er als einer der „besten“ (Welt) und „profundesten“ (FAZ) Kenner des Ersten Weltkrieges. Seine Enzyklopädie zu dieser Epoche gilt als Standardwerk.

Der Emeritus, Jahrgang 1945, lehrte als Nachfolger Wolfgang Mommsens bis 2010 am Lehrstuhl für Neuere Geschichte in Düsseldorf. Zuletzt veröffentlichte er sein beachtliches Werk „Die unbewältigte Niederlage. Das Trauma des Ersten Weltkriegs und die Weimarer Republik“ (2018) und am 27. Januar erscheint seine neue Biographie „Jeanne d‘Arc. Seherin, Kriegerin, Heilige“. 

Reiterstatue Wilhelm I. in Köln, Deutscher Kaiser von 1871-1888 Foto: picture alliance / Horst Ossinger
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