Seit den Tagen der Französischen Revolution gilt Frankreich als Hort der Freiheit und Wahrer der Menschenrechte. Oft wird dabei übersehen, daß es die Erste Französische Republik war, die in der Vendée zwischen 1793 und 1796 den ersten ideologisch motivierten Völkermord beging, der über 200.000 Menschen das Leben kostete.
Der 21. Januar 1793 war der letzte Tag im Leben des Bürgers Louis Capet, wie die französischen Revolutionäre König Ludwig XVI. von Frankreich nannten. Schweren Schrittes stieg der Todgeweihte die Stiegen zum Schafott hinauf, wo die neuartige Köpfmaschine des Arztes Guillotin seiner harrte. Ein letztes Mal richtete der Bourbone das Wort an seine einstigen Untertanen: „Franzosen, ich sterbe unschuldig, ich verzeihe den Urhebern meines Todes und wünsche, daß mein Blut nicht auf Frankreich zurückfalle.“ Ludwigs Wunsch wurde nicht erhört – weder akustisch noch sinngemäß. Seine Worte erstickten im ohrenbetäubenden Trommelwirbel, bevor das Fallbeil heruntersauste, das seinen Kopf abhackte. Der König war tot, doch der Geist der Monarchie lebte weiter, wie sich bald herausstellen sollte.
Bauern der Vendée verweigerten Rekrutierung
Die Hinrichtung des Königs war ein Schock für die gemäßigten Kräfte der Revolution und ihre adeligen Gegner, zumal nur vier Wochen später der nächste Hammerschlag folgte. Denn am 10. März 1793 beschloß der Nationalkonvent in Paris angesichts der militärisch prekären Lage im 1. Koalitionskrieg gegen Preußen und Österreich die „Levée en masse“, die Massenaushebung von 300.000 Mann. Der Beschluß war kaum verkündigt, da kam es in vielen ländlichen Gegenden zu Unruhen. Besonders in der Vendée, einem Departement südwestlich der Loire und an der Atlantikküste regte sich erbitterter Widerstand.
1793: Kurz nach der Hinrichtung seines Cousins – Ludwig XVI. – für die er als Abgeordneter gestimmt hat, gibt Louis-Philippe II. eine Erklärung ab. Er sei gar nicht der Sohn des Herzogs von Orléans, sondern des Kutschers. Es hilft nichts. Im Herbst wird auch er guillotiniert. pic.twitter.com/I4JmEMtXt6
— Verrückte Geschichte (@drguidoknapp) July 9, 2020
Die 800.000 Menschen zählende Bevölkerung der Vendée war konservativ, königstreu und tiefreligiös. Sie bestand größtenteils aus einer Bauernschaft, die weder lesen noch schreiben konnte. Im Gegensatz zu anderen Regionen Frankreichs war die Beziehung zwischen den Bauern und dem Landadel gut und einvernehmlich. Soziale Mißstände waren selten. Zur Kirche hatten die Vendeer ein sehr inniges Verhältnis, auch nachdem der Nationalkonvent ab 1790 viele Priester deportiert und den Gottesdienst verboten hatte. Die drastischen antiklerikalen Maßnahmen und die Hinrichtung des Königs hatten die Bevölkerung der Vendée derartig verbittert, daß es zur Entfachung eines Aufstands nur eines Zündfunkens bedurfte.
Die Bauernsöhne der Vendée verspürten nicht die geringste Lust zum Wehrdienst für die verhaßte Republik. Viele versuchten sich der Wehrerfassung durch Flucht zu entziehen oder widersetzten sich den Amtsgewalten, was zu Konflikten führte. Als am 12. März 1793 eine Abteilung der republikanischen Nationalgarde die Wehrpflichtigen von Saint-Florent-le-Vieil zum Militärdienst einziehen wollte, kam es zum offenen Aufstand. Die Bauernsöhne setzten sich mit Mistgabeln und Sensen zur Wehr, die Republikaner mit einer Kanone und Musketen. Der Kampf endete mit dem Sieg der Bauern, wobei es auf beiden Seiten Tote gab. Die Nationalgardisten flüchteten.
Aufstand wurde zum Kreuzzug gegen die gottlose Republik
Der Sieg war auf den ersten Blick erfreulich, doch es war klar, daß die Regierungstruppen sich rächten würden, sobald sie stark genug waren. Die Bauern brauchten einen Mann, der sie anführte. Sie fanden ihn in Jacques Cathelineau, einem Fuhrunternehmer und Wollverkäufer aus Pin-en-Mauges, der sonntags auch das Amt des Küsters ausübte. Cathelineau konnte lesen und schreiben. Er war tiefgläubig und ein begnadeter Redner.
Cathelineau beschloß, den mit Sicherheit zu erwartenden Strafaktionen der „Blauen“ – so der Spitzname für die republikanischen Soldaten – zuvorzukommen und rief zum Kampf gegen die Regierung auf. Zuerst fanden sich nur 27 Mann bereit, die Fackel des Aufstands zu ergreifen. Doch bald zeigte sich das Charisma Cathelineaus, der den Aufstand zum Kreuzzug gegen die gottlose Republik verklärte: „Vergessen wir nicht, daß wir für unsere heilige Religion kämpfen.“ Überall, wo er zum Kampf gegen die Republik aufrief, ließen die Bauern alles stehen und liegen, und schlossen sich Cathelineau an. In Scharen liefen sie der kleinen Gruppe zu, die sich rasch vergrößerte. Nur wenige hatten Gewehre. Die meisten zogen mit Mistgabeln und Sensen, die sie geradeschmiedeten, in den Kampf.
Am nächsten Tag besiegte Cathelineau mit 500 Mann beim Schloß Jallais eine kleine Abteilung der Nationalgarde. Nur einen Tag später schlugen die mittlerweile 1.200 Mann starken Rebellen eine aus Linientruppen und Nationalgardisten bestehende Truppe bei Chemillé. Wieder zeigte sich die religiöse Dimension des aufkeimenden Bürgerkriegs. Kaum waren die Blauen bezwungen, warfen die „Weißen“ in Chemillé den „Freiheitsbaum“ um und zündeten Freudenfeuer an.
Vom Bauernaufstand zur Gegenrevolution
Der Vormarsch der Bauernkolonnen bot einen eigentümlichen Anblick und glich einer Prozession, wie der republikanische Soldat Jean-Julien Savary bezeugt: „Ein Glockenläuten war das Signal für die Rekrutierung. Die Bauern ließen ihre Wagen stehen, schnappten sich Brot für drei oder vier Tage und machten sich auf den Weg, mit religiösen Symbolen wie dem Rosenkranz, einem Kreuz und dem Herzen Jesu.“ Unter dem Geklapper ihrer Holzschuhe zogen sie dem Feind entgegen, wobei sie das „Vexilla Regis“ sangen.
Zum Erstaunen ihrer Zeitgenossen errangen die Vendeer im Kampf gegen die Blauen weitere Erfolge. Beseelt durch ihren Glauben und eine Gefechtstaktik, die jeden Geländevorteil meisterhaft ausnutzte, eroberten sie am 17. März die Distriktstadt Cholet. Nach diesem Sieg nutzte Cathelineau seinen Erfolg nicht weiter aus. Er gab seiner „Armee“ frei, damit sie zu Hause Ostern feiern konnte.
Zum Glück für die Rebellen konnte die republikanische Armee die Schwäche der Bauern nicht über Ostern ausnutzen. Als die tapferen Streiter wieder den Kampf aufnahmen, schwoll ihre Armee während des Frühlings in der gesamten Vendée auf 40.000 Mann an, worunter auch viele Offiziere waren. Mit Unterstützung der adeligen Offiziere bekam die Rebellion eine andere Stoßrichtung und Organisation. Der anfänglich lokal begrenzte Bauernaufstand wurde zur Gegenrevolution. Das Rebellenheer organisierte sich neu und wurde zur „katholischen und königlichen Armee“.
Derartig verstärkt setzten die Aufständischen, abgesehen von einigen lokalen Rückschlägen, ihre Siegesserie fort. In der Folgezeit eroberten sie im Mai Thouars, Fontenay und am 9. Juni Saumur, wo sie drei Tage später Jacques Cathelineau zum ersten Generalissimus der katholischen und königlichen Armee wählten. Cathelineau sollte sein Amt nicht lange innehaben. Beim Sturm auf Nantes wurde er am 29. Juni 1793 im Straßenkampf so schwer verwundet, daß er zwei Wochen später verstarb. Der Heilige von Anjou war tot. Es war ein schmerzlicher Verlust, zumal die Royalisten Nantes nicht erobern konnten. Doch dies war erst der Auftakt zu weiteren bitteren Niederlagen, die 1796 mit der Vernichtung der Vendée endeten.