Nach dem deutschen Sieg in der Schlacht um Charkow (ukrainisch Charkiw) im Mai 1942 gegen die Rote Armee ging die Wehrmachtsführung die geplante Sommeroffensive optimistisch an. Man war der Überzeugung, dem Feind einen schweren Schlag versetzt und nun nach der Winterkrise 1941/42 wieder das Heft des Handelns in der Hand zu haben.
Statt eines erneuten forcierten Angriffs auf Moskau sahen die Pläne Hitlers und seiner Generäle die Ölfelder im Kaukasus als Ziel vor; eine neue Aufgabe für die Heeresgruppe Süd. Konkret sollte zunächst Woronesch am Don erobert und gemeinsam mit Truppen aus dem Raum Charkow weitere russische Armeen eingekesselt und zerschlagen werden. Als nächstes war der Vorstoß zur Wolga bei Stalingrad geplant, um den Nachschub der Sowjets abzuschneiden. Schließlich – so glaubte man in Berlin – könnte so der Griff nach den Erdölraffinerien bei Maikop, Grosny und Baku am Kaspischen Meer erfolgen.
Wie notwendig die Sicherstellung der Ölversorgung war, machte eine Aussage vom Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Wilhelms Keitel, aus dem Mai 1942 deutlich. „Die Operationen des Jahres 1942 müssen uns das Öl bringen. Wenn dies nicht gelingt, können wir im nächsten Jahr keine Operationen führen.“ Denn unter anderem die Seekriegsführung litt zu dem Zeitpunkt unter dem Rohstoffmangel. Das für die Marine vorgesehene Öl der rumänischen Verbündeten wurde nämlich von den Truppen für den Krieg im Osten verbraucht.
Falsche Prognosen verursachten falschen Optimismus
Angesichts dieser zunehmend schwierigeren Lage (Kriegseintritt der USA Ende 1941) wollte Hitler nun die Entscheidung in Rußland suchen. Dabei war dies angesichts der mittlerweile erlittenen Verluste nach immerhin rund drei Jahren Krieg bereits höchst ungewiß. So hatte das Ostheer seit Beginn des Unternehmens Barbarossa im Juni 1941 über 35 Prozent der durchschnittlichen Gesamtstärke als Gefallene, Verwundete und Vermißte verloren. Die Infanterie der Heeresgruppe Süd verzeichnete 50 Prozent Verluste, die der Heeresgruppen Mitte und Nord gar 65 Prozent. So urteilte der deutsche Generalstab Ende März 1942, daß nur acht der insgesamt 162 Divisionen des Ostheeres „voll verwendungsfähig“ seien.
Hinzu kam, daß das Wehrwirtschafts- und Rüstungsamt im Oberkommando der Wehrmacht mit ihren Schätzungen zur Leistung der sowjetischen Panzerproduktion für das Jahr 1942 katastrophal daneben lagen. Die Verantwortlichen gingen von 6.000 Stück aus, die Abteilung Fremde Heere Ost hingegen von 11.000 Stück. Beide lagen deutlich unter den schließlich fertiggestellten knapp 25.000 Panzern für die Rote Armee.
Ähnlich unzutreffend waren die Prognosen der deutschen Geheimdienstler und Militärs zu weiteren Waffensystemen der Sowjets. So schätzen sie die Geschützproduktion der Russen auf 7.800 Stück, dabei verließen 33.000 die Fabriken. Bei den Flugzeugen waren es mit rund 25.000 neuen Exemplaren dreimal so viele, wie die Wehrmachtsführung fälschlicherweise annahm.
Ein Effekt der falschen Prognosen war ein fataler Optimismus. Denn angesichts der zerstörten und erbeuteten Kanonen, Panzer und sonstigen Materials rechnete man nicht damit, daß Moskau ein weiteres Jahr solche Verluste würde kompensieren können. Hinzu kamen noch die in die Millionen gehende Zahl von Russen, die in Kriegsgefangenschaft geraten waren.
Wehrmacht setzte auf überlegene Einsatzführung
Zumindest auf dem Gebiet der Panzerwaffe gab es berechtigten Grund zum Optimismus auf deutscher Seite. Wurden doch im Sommer die ersten verbesserten Modelle des Panzer IV in größerer Stückzahl in Dienst gestellt. Die Ausführung F2 (später G) verfügte nun mit der 7,5cm-Kanone endlich über eine wirksame Waffe gegen die russischen T-34. Nun waren die Panzer der Wehrmacht ihren Gegnern an Feuerkraft überlegen. Zuvor hatte die kurze Kanone am Panzer IV selbst auf kurze Distanz kaum Wirkung gegen die dicke Panzerung der Feinde gezeigt. Hingegen durchschlug der T-34 selbst die Frontpanzerung der frühen Panzer IV-Modelle noch auf 1.000 Meter.
Bis man die 7,5cm-Kanone und die in großer Zahl erbeutete russische 7,6cm-Panzerabwehrkanone einsetzte, war es ein ungleicher Kampf gewesen. Für ihre dennoch erzielten Erfolge setzte die Wehrmacht auf eine überlegene Einsatzführung und nicht zuletzt das Wirken der 8,8cm-Flugabwehrkanone im Erdkampf gegen die T-34.
Fall Blau war hochriskant
Nachdem sich der Fall Blau wegen des hinhaltenden Widerstands der Sowjets um Sewastopol auf der Krim verzögert hatte, begann die deutsche Offensive schließlich am 28. Juni durch den Angriff der Armeegruppe von Weichs in Richtung Woronesch. Die 6. Armee folgte ihr zwei Tage später. Trotz russischer Gegenangriffe war der Vormarsch im Donezgebiet erfolgreich. Die 4. Panzerarmee legte innerhalb von neun Tagen 300 Kilometer zurück. Die 6. Armee kam bis zum 15. Juli 200 Kilometer voran bis nach Serafimowitsch.
Diese Resultate bestärkten Hitler in seinem Hauptquartier Werwolf bei der ukrainischen Stadt Winniza in seiner Überzeugung, die Armeen seines Widersachers Stalin befänden sich bereits in Auflösung. Zwar waren die Sowjets von dem entschlossenen Vorstoß im Süden überrascht worden, doch erkannten sie bald, welch Vabanque-Spiel die deutschen Armeen dabei führen mußten.
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Hier finden Sie die weiteren Teile der JF-Serie „Schlachtorte der Ukraine im Zweiten Weltkrieg“:
Erster Teil: Kesselschlacht bei Uman: mit den Verbündeten weiter nach Osten.
Zweiter Teil: Kampf um Kiew1941: „Stehen, halten und notfalls sterben.“
Dritter Teil: Verlustreicher Kampf um Odessa.
Vierter Teil: Charkow 1942: Stalins Generäle sterben den Soldatentod.
Fünfter Teil: Fall Blau: Die Wehrmacht verkalkuliert sich.
Sechster Teil: Über den Don bis Stalingrad.
Siebter Teil: Charkow 1943: „Das Reich“ schlägt zurück.
Achter Teil: Letzte Schlacht um Charkow: Rückzug trotz Abwehrerfolgen.
Neunter Teil: Krim 1944: Hitlers Haltebefehl kostete Zehntausenden das Leben.
Zehnter Teil: Sommeroffensive 1944 bringt Sowjets die Kontrolle über die Ukraine.