Es gebe immer noch „Geschichtsfälscher“, „Manipulateure“ und andere, die „Lügen“ verbreiten, so dröhnt es dieser Tage aus den Medien. Unter anderem stand dies so wörtlich in der Tageszeitung Die Welt. Damit sind Leute gemeint, die nicht bereit sind, die These vom anlaßlosen deutschen „Überfall“ auf die Sowjetunion im Jahr 1941 zu unterschreiben.
Im Südwestdeutschen Pressemonopolisten Rheinpfalz kam in diesem Zusammenhang sogar der jahrzehntelang verfemte Geschichtsdenker Ernst Nolte wieder zu Ehren. Die Zeitung zitierte sein Diktum vom „Unternehmen Barbarossa“ als „ungeheuerlichsten Vernichtungskrieg“, weil es nach dem passenden Superlativ klingt und die Redaktion sicher nicht weiß, daß Nolte insgesamt die Ursache des Krieges, des Nationalsozialismus und all seiner Untaten in den kommunistischen Massenmorden nach der russischen Oktoberrevolution verortet hat.
Auch die Staatsmedien lassen es nicht an entsprechenden Kommentaren fehlen, und die Wortwahl ist bezeichnend. Es hängt im völlig desorientierten Deutschland dieser Tage sowieso der Geifer überall in der Luft. Der unbedingte Wille des Regierungslagers und seiner journalistischen Claqueure zur Durchsetzung ihrer historischen Leitlinien kommt in diesem Fall dazu. Die achtzigjährige Wiederkehr des Beginns des russisch-deutschen Krieges ist dafür ein besonders anschauliches Beispiel.
Rote Armee veranstaltete größten Aufmarsch der Weltgeschichte
Bemerkenswert ist dabei, wie hier mit großer Energie etwas bestritten wird, was als Tatsache ernsthaft gar nicht verneint werden kann: die Angriffsfähigkeit und Angriffsbereitschaft der Roten Armee im Sommer 1941. Man mag noch darüber sinnieren, wie viele Staaten denn nun genau am Ausbruch des Krieges im Jahr 1939 Mitverantwortung getragen haben und wie sich das im Einzelnen zugetragen hat. Man kann sich fragen, wer bewußt, willkürlich oder leichtfertig handelte und wer eventuell von Ehrgeiz, Druck oder Angst getrieben wurde. Das ist eine komplexe Fragestellung und wird es immer bleiben.
Daß aber die Rote Armee seit dem Frühjahr 1941 den zahlenmäßig bei weitem größten militärischen Aufmarsch der Weltgeschichte veranstaltet hat, ausgestattet mit dem vierfachen an Truppenzahl und einer bis zu siebenfachen Anzahl an gepanzerten Fahrzeugen im Vergleich zum kommenden deutschen Kriegsgegner, das steht fest. Das ist auch nicht nur die Ansicht akademischer Einzelgänger oder „Revisionisten“, sondern Standard historischer Forschung. Niemand bestreitet diese Zahlen.
Für die daraus folgende Konsequenz trifft das nicht in gleicher Weise zu. Aber auch hier gibt es viele Historiker, die ihre Schlüsse ziehen. Wenn Stalin gewollt hätte, hätte er den Angriff Anfang Juli 1941 in Gang setzen können, urteilte etwa Professor Bernd Bonwetsch schon in den 1990ern als damaliger Leiter des Deutschen Historischen Instituts in Moskau.
Sowjetunion bereitete sich auf Angriff vor
Fest steht außerdem, daß die sowjetische Militärführung in den Händen von kompetenten Personen wie Georgij Schukow lag und zweifelsfrei belegt ist durch schriftliche Quellen, daß sie davon ausging, mit ihrer Streitmacht zum siegreichen Angriff auf Mitteleuropa im Stande zu sein. Die Hauptsorge des Generalstabschefs der Roten Armee bestand im Mai 1941 darin, die Deutschen könnten ihm „zuvorkommen“.
Folgerichtig gab es auch keinerlei sowjetische Verteidigungspläne, die etwa in historischer Tradition des „Vaterländischen Krieges“ gegen Napoleon die gewaltigen Rückzugsräume des größten Landes der Welt für eine bewegliche Verteidigung in Rechnung gestellt hätten. Es existierte eine ausschließlich offensive Planung für einen Krieg auf gegnerischem Boden. Man ließ Tausende Panzer der damals allerneusten Typen, denen auf deutscher Seite nichts Ebenbürtiges gegenüberstand, auch nicht zu Abschreckungszwecken öffentlich über den Roten Platz in Moskau rollen. Sie wurden so geheim und offensiv stationiert wie nur möglich.
Dies alles steht also ebenso fest, wie es im öffentlichen Diskurs über „80 Jahre Barbarossa“ keine Rolle spielt. Das offizielle Berlin fährt den inzwischen gewohnten Kurs der absoluten, in keinem Fall relativierbaren Reue und des Gedenkens an die Opfer.
Putin setzt auf stalinistische Propaganda
Rußlands Präsident Wladimir Putin ließ unterdessen etlichen deutschen Geschichtsprofessoren eine Vorlage zukommen, wie bitteschön künftig das „Unternehmen Barbarossa“ zu sehen sei. Sie ist allerdings nicht neu, sondern eine Wiederauflage stalinistischer Propaganda, laut der die Westmächte und Polen eine Mitverantwortung für den Kriegsausbruch von 1939 tragen.
Die Sowjetunion erscheint darin als „Friedensmacht“, ihr Diktator Josef Stalin als kluger Schachspieler auf dem diplomatischen Parkett, der sich mit der Teilung Polens 1939 eine bessere Ausgangsposition für den kommenden Krieg mit dem Aggressor Deutschland verschafft habe. Ansonsten bleibt es für 1941 beim militärisch wie politisch anlaßlosen „Überfall auf die Sowjetunion“ zum Zweck des Erwerbs von Lebensraum.
Warum Stalin 1941 vom deutschen Überfall überrascht worden sein soll, wenn er doch so klug gewesen sein soll, sich schon 1939 eine bessere Ausgangsposition dafür zu verschaffen, für diese naheliegende Frage kam man früher in der UdSSR schon mal in Lagerhaft. Das Berlin aller politischen Schattierungen blendet sie lieber gleich ganz aus. Warum das Deutsche Reich, das im Sommer 1941 schon mit der halben Welt im Krieg lag und zusätzlich der absehbaren Feindschaft der Vereinigten Staaten ins Auge blickte, den Löwenanteil seiner militärischen Kraft ohne Not in ein Unternehmen hätte stecken sollen, das die Kriegsgegner unisono als bedeutende deutsche Schwächung begrüßten, bleibt in diesem offiziellen Szenario ebenfalls unbeantwortet.
Verschiebt sich der Diskurs?
Es ist schwer, auf diese Zustände keine Satire zu schreiben und es wäre zugleich gar nicht ungefährlich, dies zu tun. Wie die eingangs zitierte Wortwahl zeigt, werden die offiziellen Parolen mit einer gewissen Hysterie verteidigt. Zugleich setzt sich allerdings seit langem in einer Art Graswurzelbewegung eine Annäherung an die historische Wahrheit durch.
Ein großer Teil der Leserreaktionen auf Veröffentlichungen zum Thema, ob „Barbarossa“ nicht als Präventivkrieg zu bezeichnen sei, besteht beispielsweise entweder in Zustimmung, in sachlich ergänzenden Nachfragen, oder in Bedenken, ob man das sagen solle. Behauptungen, es sei grundfalsch, gibt es immer weniger. Vielleicht findet ja doch auch der offizielle bundesdeutsche Diskurs einmal ein Plätzchen für solch feststehende historische Tatsachen, ganz unmanipuliert.
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