Die Bauern auf den Feldern zogen die Köpfe ein, als plötzlich Schüsse fielen. „Wir glaubten zunächst, wir würden beschossen“, berichtete eine der Landfrauen später. Doch warum hätte das geschehen sollen, an diesem 1. Juni 1945? Das nahegelegene Braunschweig war schließlich schon seit 50 Tagen von amerikanischen Truppen besetzt, vor gut drei Wochen hatte die Wehrmacht kapituliert, der Krieg war doch vorbei … „Dann sah ich“, so heißt es in den Schilderungen der Augenzeugin weiter, „wie ein kleiner Lastwagen der Amerikaner mit zwei Särgen aus der benachbarten Kiesgrube herausfuhr“.
Die Salven, die da heute vor 75 Jahren abgefeuert wurden, stammten aus acht Gewehren eines Erschießungskommando der 9. US Armee. Um genau 10.32 Uhr vormittags trafen sie einen 16 Jahre jungen Mann aus dem Rheinland namens Heinz Petry sowie seinen 17jährigen Kameraden Josef Schöner aus Stolberg bei Aachen. Man hatte die beiden in der Kiesgrube an der Straße zwischen den beiden Dörfern Denstorf und Wedtlenstedt vor den Toren Braunschweigs an Eisenbahnbohlen gestellt und hingerichtet. Als Spione. Die Exekution wurde von Fotografen und sogar einem Kameramann der Armee in einem Film festgehalten – möglicherweise nur zur Dokumentation, vielleicht aber auch zur Abschreckung.
Heinz Petry wurde am 31. Dezember 1928 als ältester Sohn eines Gärtnereibesitzers in Euskirchen geboren. Als 13jähriger kam er auf eine nationalsozialistische Kaderschmiede, die „Adolf-Hitler-Schule“ (AHS) auf Schloß Drachenfels in Königswinter bei Bonn. Im Januar 1945 wurde Petry gemeinsam mit einigen Jahrgangskameraden unter anderem im Umgang mit Sprengmitteln geschult; die Jungen sollten offenbar mit Einheiten des Volkssturms als „letztes Aufgebot“ in den Kampf gegen die vorrückenden Alliierten geworfen werden.
In zivil hinter den feindlichen Linien operieren
Anfang Februar schickte man sie Richtung Bergheim bei Köln. Sie sollten sich, in Zweiergruppen aufgeteilt, von den Amerikanern oder Briten überrollen lassen und in zivil hinter den feindlichen Linien operieren. Entweder indem sie militärisches Material sprengten oder aber Truppenbewegungen, die Stärke und Bewaffnung der Einheiten beobachteten und per Funk durchgaben.
Am 21. Februar wurde Petry mit dem ortskundigen Schöner in sein Einsatzgebiet bei Aachen gebracht. „Wir sollten Erkundigungen über den feindlichen Verkehr einziehen“, berichtete Petry später. Schöner, der kein Schüler der AHS war, hatte sich freiwillig zu einem besonders gefährlichen Einsatz gemeldet. Denn sein Vater war als Hotelbesitzer in Stolberg wegen Schwarzhandels von einem deutschen Gericht zum Tode verurteilt worden. Nun wollte der Sohn durch besondere Tapferkeit die Schande, die sein Vater seiner Meinung nach über die Familie gebracht habe, wiedergutmachen. Es gehört zur Tragik seines Schicksals, daß Schöners Vater wegen des schnellen Vorrückens der US-Armee seiner Hinrichtung entgehen konnte, während ebendiese Amerikaner seinen Sohn als Spion zum Tode verurteilten und erschossen.
Schon einen Tag nach Beginn ihres Einsatzes wurden Petry und Schöner von einer amerikanischen Streife in ihrem Versteck in der Nähe des Dorfes Birgden nördlich von Aachen zwischen Heinsberg und Geilenkirchen festgenommen. Zwar hatten es die beiden Jugendlichen geschafft, tief in das rückwärtige Aufmarschgebiet der Alliierten vorzudringen. Allerdings spricht die rasche Festnahme dafür, daß sie nur äußerst dilettantisch auf solch ein gefährliches Unternehmen vorbereitet worden waren. Da die Amerikaner zudem die deutsche Zivilbevölkerung wegen der Kämpfe weitgehend evakuiert hatten und es von Militärs dort wimmelte, mußten die zwei jungen deutschen Zivilisten aufgefallen sein.
„Es ist bedauerlich, daß die deutsche Wehrmacht sich soweit erniedrigt“
Nachdem Petry und Schöner zunächst ins Aachener Gefängnis kamen, transportierte man sie später nach Mönchengladbach, wo sie am 29. März 1945 nach einer eintägigen Verhandlung von einem aus Offizieren der 9. US Armee bestehenden Kriegsgericht mit einer Zweidrittelmehrheit wegen Spionage zum Tode verurteilt wurden.
Im Urteil heißt es unter anderem: „Es ist äußerst bedauerlich, daß die nicht so unbesiegbare deutsche Wehrmacht sich soweit erniedrigt, junge Burschen zu dem gefahrvollen Beruf der Spionage zu veranlassen. Hättet Ihr indessen Eure Aufgabe erfolgreich ausgeführt, so hätten wir genau so teuer dafür bezahlt, als wenn dies von Erwachsenen ausgeführt worden wäre.“ Deswegen müsse das Urteil auch so hart ausfallen. „Wir haben keine andere Wahl, als Feuer mit Feuer und Blut mit Blut zu vergelten.“
Weiter heißt es: „Vielleicht hattet Ihr keine andere Wahl unter der Herrschaft Eurer Nazi-Lehrmeister als treu Befehlen Folge zu leisten. Aber deren Macht über Euch hörte auf zu bestehen indem Augenblick, als Ihr Euch hinter unseren Linien befandet. Ihr hättet Euch dann an den ersten besten amerikanischen Soldaten wenden können und ihm die Wahrheit gestehen; und kein Leid wäre über Euch gekommen. Ihr habt anders gehandelt. Ihr versuchtet im Gegenteil die Befehle Eures geliebten Führers und seiner Verbrecher-Horden auszuführen, die aus ihren bombensicheren Bunkern in so tapferer Weise solches von Euch verlangten.“ Die Angeklagten seien „beide alt und klug genug, um Euch die Folgen Eures Handelns vor Augen zu halten.“ Nachdem ihr Plan mißlungen sei, würden sie nun den „Preis dafür bezahlen“.
Der Abschiedsbrief
Umgehend reichte ihr Verteidiger, ebenfalls ein amerikanischer Offizier, ein Gnadengesuch ein. Ihren Angehörigen wurde mitgeteilt, daß die Strafe aller Wahrscheinlichkeit nach in eine 10jährige Gefängnisstrafe abgeändert werde und daß die Verurteilten nach Kriegsende wahrscheinlich in Freiheit gesetzt würden. Wochenlang warteten die Jungen auf eine Entscheidung. Der Kommandierende General der 9. Armee William H. Simpson, lehnte ihr Gnadengesuch jedoch ab, bestätigte das Urteil und befahl, die Todesstrafe durch Erschießen zu vollstrecken.
Die in der Rückschau unverständliche Härte des Urteils sowie seine – Wochen nach Kriegsende – erfolgte Vollstreckung wurde in der Literatur (so etwa bei Hans-Josef Horchem, „Kinder im Krieg“) häufig mit der sicherlich übertriebenen Angst der Amerikaner vor Partisanenanschlägen („Werwolf“) begründet. In einer lokalgeschichtlichen Darstellung („Das kurze Leben des Heinz Petry aus Euskirchen“) verweist der Autor Hans-Gerd Dick zudem auf die Tatsache, daß unmittelbar vor der Verurteilung von Petry und Schöner das Attentat auf den damaligen Aachener Bürgermeister Oppenhoff stattgefunden hatte.
Am 30. Mai transportierte man die beiden Jungen schließlich nach Braunschweig, wo ein Teil der Militärverwaltung der 9. US Armee zu dieser Zeit seinen Sitz hatte. Dort eröffnete man ihnen dann erst einen Tag später, daß ihr Gnadengesuch abgelehnt wurde und die Vollstreckung des Todesurteils unmittelbar bevorstehe. Noch in der Nacht erlaubte man ihnen, einen Abschiedsbrief an ihre Angehörigen zu schreiben. Die auf drei Bögen offiziellem Briefpapier der Untersuchungshaftanstalt Braunschweig niedergeschriebenen Zeilen Petrys an seine Familie sind als bewegendes Zeugnis eines jungen Mannes erhalten geblieben, der sicherlich reifer als ein durchschnittlicher 16jähriger wirkt.
„Ich habe in der Gefängnishaft gemerkt, was es heißt an Gott zu glauben“
„Dieser Brief wird mein letzter sein, denn ich bin zum Tode verurteilt, und wir können uns nie mehr wiedersehen“, eröffnet er darin seinen Angehörigen. Er schildert nicht nur kurz seinen Einsatz und die Festnahme hinter den Linien. In Teilen enthält sein Schreiben auch eine – indirekte – Erwiderung auf das, was ihnen die Militärjustiz an Verblendung und fanatischem Dienst für die Sache des Nationalsozialismus vorgehalten hatte: „Mein letzter Wunsch war nun, Euch diesen Brief zu schreiben. Er soll Euch die Kraft geben, das Schwerste zu überwinden; er soll Euch sagen, daß es mir leicht gefallen ist zu sterben, daß ich gestorben bin als Soldat. Denn wißt, so wie mir ein amerikanischer Offizier versicherte, daß wir in seinen Augen Menschen sind, die Ihr Höchstes für das Vaterland hingaben und keine ehrlosen Kerle, so sollt Ihr Euch meiner Tat nicht schämen, sondern stolz auf Euren Heinz sein. Denn das, was ich tat, tat ich nicht für eine Regierung, die uns verraten und betrogen hat, sondern in der gläubigen Hoffnung, meinem geliebten deutschen Vaterland und meinem Volke damit zu dienen.“
Er sehe nun, schrieb Petry weiter, „daß ich ein schönes Leben gehabt habe nur durch Euch. Ich kann es Euch nicht wieder gut machen, kann Euch nur Dank sprechen aus tiefster Seele, tausend Dank für all Eure Sorge und Mühe.“ Obwohl er wie die meisten AHS-Schüler nicht mehr Mitglied der Kirche war, schilderte er den Besuch eines Pfarrers in der Zelle: „… und so bin ich nun auf alles vorbereitet. Ja, ich habe in den zwei Monaten meiner Gefängnishaft gemerkt, was es heißt an Gott zu glauben, sagen zu können, da ist noch einer, der dir über alles hinweghilft, der dir beisteht in deiner größten Not, wo kein Mensch dich mehr trösten kann.“ Der letzte Gang falle ihm nicht schwer, „denn ich weiß ja, wofür ich ihn ging.
Wenn ich auch nicht auf dem Felde der Ehre gefallen bin, so bin ich doch als Soldat gestorben und daran sollt Ihr immer denken.“ Und noch einmal betont der 16jährige deutlich: „Nicht für Himmler und Goebbels sondern für Deutschland bin ich gestorben, auch das soll Euch ein Trost sein.“
Ein mahnendes Vermächtnis
Heinz Petry wurde zunächst am 4. Juni auf dem Braunschweiger Hauptfriedhof beerdigt, sein Schicksalsgenosse Josef Schöner nebenan auf dem katholischen Friedhof. Unterdessen funktionierte auch so kurz nach Kriegsende die deutsche Bürokratie schon wieder einwandfrei. Nicht nur, daß der Braunschweiger Bote bereits im Mai die Bewohner der Stadt ermahnte, ihre Steuererklärung für das Jahr 1944 unverzüglich abzugeben. Auch die Friedhofs-Hauptkasse stellte umgehend den Angehörigem 42,35 Reichsmark Gebühren für Petrys Bestattung in Rechnung. Darin enthalten 12 Reichsmark für eine Einzelgrabstelle dritter Klasse sowie 50 Pfennig für den Begräbnisleiter. Petrys Leichnam überführte man dann am 13. Dezember 1948 in seinen Heimatort Euskirchen.
Seine Hinrichtung am 1. Juni 1945, heute vor 75 Jahren, vor Augen hatte der 16jährige in seinem Abschiedsbrief auch einige Zeilen an seinen jüngeren Bruder gerichtet, die wie ein mahnendes Vermächtnis klingen: „Du sollst Deinem Vaterlande dienen und der Welt zeigen, daß es auch noch ein friedliebendes Deutschland gibt, ein Deutschland, das die Schulden, die ihm eine falsche Regierung auflud, abgetragen hat, denn Deiner Generation wird diese Aufgabe zuteil werden, und sei stark genug sie zu lösen.“