Ideen muß man haben – nicht nur zu Pfingsten. Die Katholiken in Frankreich haben sie. Denn angesichts des Verbots von Massenveranstaltungen und der strikten Corona-Verhaltensbestimmungen hat der Bischof von Châlons (Marne), Monseigneur Francois Touve, in Châlons-en-Champagne schon zwei Wochen vor dem Pfingstfest und vor der umfangreichen Lockerung die Sonntagsmesse kurzerhand in eine Drive-in-Messe verwandelt. Auf dem großen Platz der Stadt wurde eine Bühne mit Altar aufgebaut und davor „versammelten“ sich rund 200 Autos mit insgesamt 500 Insassen, die dann über das lokale Radio die Messe mitverfolgen konnten.
Für die Kommunion sollten die Gläubigen dann den Notblinker einschalten, sofern sie sie empfangen wollten. Alle blieben in gehörigem Abstand in ihren Autos, zehn Priester gingen durch die breiten Reihen und verteilten die Kommunion. „Diese Messe ist mehr als eine Pannenhilfe“, meinte der Bischof später in einem Interview, „es ist eine wirkliche heilige Messe, ein Sieg des Lebens“.
Vorausgegangen war ein Protest der Bischofskonferenz, weil die Regierung von Staatspräsident Emmanuel Macron und Ministerpräsident Edouard Philippe die Kirche und überhaupt Religionen in ihrem Maßnahmenkatalog wie eine berufliche Kulturgruppe unter anderen, etwa die Theater-oder Eventberufe, behandelt hatte und auch sonst wenig Verständnis für die religiösen Gefühle der Gläubigen zeigte, obwohl gerade die Katholiken peinlich genau darauf achten, daß alle Corona-Vorschriften eingehalten werden.
Macron konnte vom Anführer-Effekt nicht so stark profitieren
Am elften Mai wurden die strengen Maßnahmen der Ausgangssperre zwar erstmals etwas gelockert, aber die Stimmung ist nicht gut. Und das nicht nur wegen der 28.714 Toten (Stand Samstag, 30.Mai), die im Zusammenhang mit dem Virus in den vergangenen zwei Monaten gestorben sind und der offiziell 149.071 Infizierten seit Januar. Langsam spüren die Franzosen, daß das Krisenmanagement nicht optimal war. Die Popularität des Präsidenten ist zwar gestiegen, aber das ist der übliche – übrigens auch in Deutschland und den meisten anderen europäischen Ländern meßbare – Effekt in Krisensituationen, man schart sich um den handelnden Anführer gegen den gemeinsamen Feind.
Der Anstieg hielt sich jedoch in Grenzen und lag deutlich unter dem 20-Prozent-Anstieg der Vorgänger im Elysee in vergleichbaren Krisensituationen. Zwar kann die Regierung nach jüngsten Umfragen mit einer deutlichen Unterstützung für die Lockerungsmaßnahmen rechnen, aber sie geht vor allem auf das Konto von Premier Philippe, der in der Krise wie ein Fels in der Brandung wirkt, der Figaro nennt es die „ruhige Strenge“. Seine Popularität steigt schneller und höher als die des Präsidenten. Das ist in gewöhnlichen Zeiten gefährlich für den Premier. Auch jetzt erwartet man eine Regierungsumbildung, aber Macron hat zu Philippe keine Alternative. Es gibt Spannungen zwischen Matignon, dem Amtssitz des Premiers, und Elysee.
Absatzbewegungen in den eigenen Reihen
Macron muß sich in der Tat nicht nur um seine Popularität Sorgen machen. Seine Machtbasis zeigt Risse, in den eigenen Reihen sind Absetzbewegungen zu beobachten. 33 Abgeordnete haben mittlerweile seine Partei verlassen und mit Abgeordneten vor allem aus dem linksgrünen Lager neue Fraktionsgruppen gebildet. Mittlerweile gibt es im Palais Bourbon, wo die Nationalversammlung tagt, zehn Fraktionen, so viele wie noch nie seit dem Ende der Vierten Republik (1958). Seine eigene Partei, LREM (La Republique en Marche – die Republik auf dem Vormarsch), hat ihre eigene absolute Mehrheit von einst 314 Sitzen verloren und liegt mit 281 deutlich unter der absoluten Mehrheit im Parlament von 289 Sitzen. Der Trend dürfte noch stärker werden nach dem zweiten Wahlgang der Kommunalwahlen am 28. Juni. Die LREM wird auf kommunaler Ebene zerrieben, sie hat dort nie wirklich Wurzeln schlagen können.
Mit besonderem Interesse schaut das Land auf den Ausgang der Wahlen in Paris und Lyon. Ihnen wird nationale Bedeutung beigemessen. Aber für die Kandidaten der Präsidentenpartei sieht es nicht gut aus. Die bis Februar amtierende Gesundheitsministerin Agnes Buzyn hat zudem in einem Interview eingeräumt, daß der erste Wahlgang Mitte März, als der Virus schon bedrohlich zuschlug, nie hätte stattfinden dürfen. Viele Wahlhelfer hätten sich infiziert, und vermutlich auch viele Wähler. Die Nationalversammlung und der Senat haben deswegen Untersuchungsausschüsse einberufen. Die Wahlen werden für Macron auch ein parlamentarisches Nachspiel haben und da könnte sich schon zeigen, was seine Mehrheit mit den Abspaltungen und den Liberalen noch wert ist. Möglicherweise wird er sich gedrängt fühlen, das Parlament aufzulösen.
Macron braucht Geld, viel Geld
Erst recht, wenn die sozialen Unruhen mit den gelockerten Bestimmungen sich wieder auf die Straße verlagern. Die Pflegeberufe und das Krankenhauspersonal, die Fernfahrer und die Bauern, die Lehrer und die Freiberufler, die Feuerwehrleute und die Polizisten – überall grassieren Frustration und Unmut. Die Regierung versucht, die Lage mit den abgestuften Lockerungen in den Sommer und die Urlaubsmonate zu ziehen in der Hoffnung, daß das Volk sich am Strand und in den Parks beruhigt. Mit einer Regierungsumbildung zur „Rentrée“, der Wiederaufnahme des öffentlichen Lebens mit Schule, Uni und Arbeit im September sowie einem Konjunkturprogramm, das den privaten Konsum ankurbelt, könnte man in die neue Runde um Europa und die sich nähernden Präsidentenwahlen starten.
Aber dafür braucht Macron Geld, viel Geld. Und deshalb loben seine Minister und er selbst die deutsche Bundeskanzlerin bis an die Grenze der Unterwürfigkeit. Denn das Geld hofft man über das sogenannte Wiederaufbauprogramm der EU-Kommission, sprich: vor allem aus Deutschland, zu bekommen. Aber es ist offen, ob und wie schnell der Euro rollt. Macron denkt in französischer Manier wie einst Molière dichtete: „Bei allem, was man treibt, ist Geld der Schlüssel, dem kein Tor verschlossen bleibt“. Aber 350 Jahre nach dem großen Dichter sieht Frankreich anders aus und ist vor allem ziemlich heruntergewirtschaftet. Die Franzosen sehen in Macron gewiß ähnlich wie in Molière einen großen Theaterspieler, nur eben auf einer Bühne, die ihren Alltag unmittelbar berührt. Es könnte durchaus sein, daß der Dramatiker Macron sein Stück im Elysee nur einmal aufführen kann.
Auch Le Pen macht sich Hoffnungen
In der bürgerlichen Opposition und auf der Linken bereiten sich schon potentielle Kandidaten auf den Schlußakt vor. Auch die Präsidentin des Rassemblement National, Marine Le Pen, macht sich Hoffnungen. Und man verbirgt auch nicht mehr seine Gedanken. Als Macron sich neulich wieder indirekt bei einer Gedenkveranstaltung in der Region Nord-Pas-de Calais mit de Gaulle verglich, saß unter den wenigen Gästen auch der Regionalpräsident Xavier Bertrand, der am gleichen Tag in einer Zeitung mit Bezug auf de Gaulle die Qualitäten eines Staatenlenkers betonte.
Dazu gehörten jedenfalls nicht, so Bertrand, der als ein potentieller Kandidat der Republikaner für die Präsidentenwahl in knapp zwei Jahren gehandelt wird, eine Führungsschwäche, die sich darin äußere „ständig zu reden, zu allem und jedem“, und sich permanent um seine Popularität zu sorgen. „Ein Chef darf nicht das pathologische Bedürfnis haben, von allen geliebt zu werden, er darf nur Frankreich gehören“. Zumindest sollte er sich gelegentlich etwas Neues einfallen lassen und nicht nur davon reden, daß das Land und er selbst sich neu erfinden müssten. In Berlin wäre man gut beraten, nicht allzu sehr auf Macrons europäischen Schallmeienklänge zu hören.