Der „Prager Frühling“ hat einen langen Schatten geworfen. In den zwanzig Jahren zwischen den Ereignissen in der Tschechoslowakei und dem Zusammenbruch des Ostblocks blieben seine Nachwirkungen immer spürbar. Die „Charta ’77“ gehörte zu den wichtigsten Dokumenten der Opposition in einem kommunistischen Staat, Pavel Kohouts „Tagebuch eines Konterrevolutionärs“ (1969) spielte als dokumentarische und Milan Kunderas „Unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ (1984) als literarische Verarbeitung der Geschehnisse eine Rolle, und dann gab es noch, was heute weitgehend vergessen ist, den Einfluß der „wirtschaftsdemokratischen“ Theorie Ota Šiks, die den „Dritten Weg“ (1972) zwischen Kapitalismus und Kommunismus begehbar machen wollte.
Der Leitgedanke dahinter war der „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“. Die Formel gehörte zur letzten Glaubensreserve der linken Intelligenz des Westens, die nach dem Scheitern ihrer Utopie wenigstens an der Überzeugung festhielt, daß man einmal, am Rand Mitteleuropas, das Wunder vollbracht habe, Planwirtschaft und Freiheit, Egalitarismus und Selbstbestimmung zusammenzubringen.
Die Kürze des „Prager Frühlings“ – er dauerte faktisch nur von Januar bis August 1968 – hat ganz wesentlich zu seiner Eignung als Projektionsfläche ideologischer Sehnsüchte beigetragen. Die genauere Betrachtung zeigt allerdings, daß zu keinem Zeitpunkt Aussicht bestand, die inneren Widersprüche der verschiedenen Ansätze auszugleichen und eine Entwicklung einzuleiten, die zu einem politischen Modell hätte führen können, das gleich weit vom westlichen wie vom östlichen Muster entfernt gewesen wäre.
Trügerische Hoffnung der Bürgerlichen
Die wichtigste Ursache dafür war die Einbindung der Tschechoslowakei in den sowjetischen Block; eine Folge der Entscheidungen, die von den Alliierten während der letzten Phase des Zweiten Weltkrieges getroffen worden waren. Faktisch überließen damals Churchill und Roosevelt Stalin den gesamten ostmittel- und osteuropäischen Raum. Anfangs zögernd, dann mit wachsender Entschlossenheit, ließ er hier kommunistische Regime installieren. Zuletzt 1948 in der Tschechoslowakei. Deren bürgerliche Regierung hatte sich allerdings schon vorher Moskau angedient und deshalb geglaubt, einer vollständigen Sowjetisierung zu entgehen.
Diese Hoffnung erwies sich als trügerisch, und in der Folgezeit wurde ein System errichtet, das dem sowjetischen in jedem Detail entsprach. Die politische Verfassung der „Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik“ (CSSR) war seit den fünfziger Jahren nichts als eine Kopie des Stalinismus, samt moskauhöriger Partei, Kommandowirtschaft, Allmacht der Geheimpolizei, systematischer Terrorisierung und Vernichtung politischer Gegner, Allgegenwart der marxistisch-leninistischen Ideologie.
Für das Land hatte das fatale Folgen. Eine bestand darin, daß der Staat trotz der Möglichkeit des totalitären Zugriffs außerstande war, jene strukturellen Probleme zu lösen, die aus der Zwischenkriegszeit überdauert hatten. Dazu gehörte zwar nicht mehr der Dauerkonflikt mit der weiland zweitgrößten Bevölkerungsgruppe der Sudetendeutschen, die liquidiert oder vertrieben worden war, aber eine permanente Auseinandersetzung zwischen Tschechen und Slowaken.
Ökonomische Strukturen vernichtet
Noch gravierender wirkte sich aus, daß der Zwang zur Nachahmung des sowjetischen Musters die ökonomische Struktur eines Gebietes vernichtete, das seit dem 19. Jahrhundert zu den industriellen Zentren des Kontinents gehörte, eine starke Mittelschicht und qualifizierte Arbeiterschaft besaß und immer eng mit den westeuropäischen Märkten verbunden gewesen war. Der von Stalin befohlene Aufbau einer Schwerindustrie, die Enteignungen und Kollektivierungen hatten keinerlei positive, sondern nur negative Konsequenzen und führten zu einer wirtschaftlichen Dauerkrise.
Die Zerstörung des gesellschaftlichen Gefüges hatte auch zur Konsequenz, daß es in der CSSR anders als in den meisten Ostblockstaaten keine Ansätze für die Entstehung von Widerstandszentren gab. Die Partei war der einzige Faktor von Bedeutung, was auch bedeutete, daß jeder Versuch, das System zu ändern, letztlich aus der Partei selbst kommen mußte. Genau diese Situation schien einzutreten, als im Januar 1968 die alte Führungsriege um Antonín Novotný, die zuletzt noch brutal gegen widerspenstige Intellektuelle und Studenten vorgegangen war, durch eine Palastrevolte ausgeschaltet wurde. Mit Billigung Moskaus trat an die Stelle des Tschechen Novotný der Slowake Alexander Dubček.
Als Erster Sekretär der KPČ plante Dubček keineswegs einen Systemwechsel. Die von ihm geführte Gruppe der Reformer kritisierte die Verhältnisse vielmehr auf dieselbe Art, wie das schon während der sogenannten „Entstalinisierung“ und der kurzen „Tauwetter“-Perioden im Ostblock möglich gewesen war. Das heißt, es ging gegen die Bürokratisierung, die Inkompetenz der Nomenklatura, die Mißwirtschaft und Korruption, um Aufarbeitung der Schauprozesse aus der Nachkriegszeit und Rehabilitierung der zu Unrecht Verurteilten.
Aufhebung der Zensur löste Euphorie aus
Dabei mußte man selbstverständlich mit dem Widerstand der Kader rechnen, die ihre Positionen in Gefahr sahen, durfte aber gleichzeitig auf die Unterstützung der Bevölkerungsmehrheit setzen. Tatsächlich war das, was man den „Prager Frühling“ nannte, in erster Linie Folge einer veränderten Stimmungslage in der Tschechoslowakei. Eine euphorische Zukunftserwartung hatte sich schon breitgemacht, nachdem die Zensur Anfang des Jahres faktisch und dann auch formell aufgehoben worden war und eine wahre Informationsflut über die Menschen hereinbrach.
Als am 5. April 1968 das „Aktionsprogramm“ der Partei veröffentlicht wurde, in dem eine echte Föderalisierung und Gleichberechtigung der Slowaken, Lockerung der Planvorgaben, Verbesserung der katastrophalen Wohnungssituation, Rechtstaatlichkeit und Meinungsfreiheit zugesagt wurden, war die Öffentlichkeit längst über diese Punkte hinaus.
Zwar gab es die Bereitschaft, die Zugehörigkeit der CSSR zum Warschauer Pakt und zum „Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe“ zu akzeptieren und auch eine breite Zustimmung für den Sozialismus als Ordnungsrahmen, aber gleichzeitig wurden Forderungen nach Reisefreiheit, Schaffung eines Mehrparteiensystems und Rückkehr zum Parlamentarismus laut. Die katholische Kirche erhob ihre Stimme, und es entstanden – bis dahin unvorstellbar – von der KP unabhängige Organisationen.
Provokationen nichtkommunistischer Intellektueller
Deren Spektrum reichte von den wiedergegründeten Sokoln und Pfadfindern über einen unabhängigen Schriftstellerverband, der im März durch Václav Havel und seinen Kreis gebildet worden war, bis zur Organisation „Klub 231“ beziehungsweise „K 231“, in dem sich die Opfer des Regimes zusammengeschlossen hatten (Das Gesetz Nr. 231 „Zum Schutz der demokratischen Volksrepublik“ hatte die juristische Grundlage für die Schauprozesse geliefert), und dem „Klub Engagierter Parteiloser“ (KAN).
Letzterer vereinigte nichtkommunistische Intellektuelle, was für sich genommen schon eine Provokation der Dogmatiker in der KP bedeutete, die zu Recht darauf hinwiesen, daß hier der Monopolanspruch der Partei grundsätzlich in Frage gestellt wurde. Wie zutreffend diese Einschätzung war, zeigte sich, als ehemalige Sozialdemokraten die Zwangsvereinigung mit den Kommunisten von 1948 für ungültig erklärten und ihre Partei wiederhergestellt wissen wollten.
Der Höhepunkt dieser Entwicklung wurde am 27. Juni mit dem „Manifest der 2.000 Worte“ des Schriftstellers Ludvik Vaculík erreicht, das weitere siebenundsechzig Intellektuelle und Künstler unterzeichneten und das eine scharfe Abrechnung mit den zwanzig Jahren kommunistischer Herrschaft enthielt. Dem trat die Regierung Dubček sofort entgegen, die auch die Zulassung einer Partei außerhalb des von der KP geführten Blocks ausdrücklich ablehnte.
Angst vor Interventionsgründen
Dabei spielte sicher die Sorge mit, die Sowjetunion könnte die Einführung eines echten Mehrparteiensystems als Interventionsgrund betrachten. Seit dem März waren aus Moskau immer wieder Drohungen und Warnungen zu hören gewesen. Der Ton gegenüber dem „Bruderland“ wurde zusehends schärfer, auch wenn man behauptete, daß es keine Absicht gebe, sich in dessen innere Angelegenheiten einzumischen.
Als die Sowjetunion im Rahmen von Manövern starke Verbände auf tschechoslowakisches Gebiet verlegte, betrachteten das Führung wie Bevölkerung als Einschüchterungsversuch. Es kam zu antisowjetischen Demonstrationen, die Regierung versuchte durch Hinhaltetaktik die weitere Eskalation zu verhindern. Aber in Moskau betrachtete man das „Manifest“ als letzten Beweis dafür, daß die CSSR in die Hand von „Revisionisten“ zu fallen drohte. Außerdem wuchs die Sorge, daß der Funke von Prag aus auf die anderen Länder des Ostblocks überspringen könnte, was deren Parteichefs dazu brachte, immer massiver ein militärisches Vorgehen zu fordern.
Anfangs schien man in der Spitze der KPdSU vor einem solchen Schritt zurückzuschrecken, aus Angst vor einer Wiederholung der Vorgänge in Ungarn 1956. Aber nachdem die Lage in der Tschechoslowakei immer unkontrollierbarer wurde und sich die letzten Pressionen gegen Dubček als wirkungslos erwiesen, fiel am 17. August die Entscheidung im ZK, daß eine Intervention zum frühest möglichen Zeitpunkt erfolgen solle. Zwei Tage später schlossen sich die Warschauer-Pakt-Staaten (mit Ausnahme Rumäniens) dieser Entscheidung an.
NVA wurde nicht einbezogen
Die CSSR sollte mit starken sowjetischen, polnischen, ungarischen und bulgarischen Verbänden – wahrscheinlich mehr als 600.000 Mann – besetzt werden; die NVA bezog man trotz demonstrativer Bereitschaft der DDR-Führung nicht ein. In der Nacht vom 20. auf den 21. August 1968 begann die „Operation Donau“. Die Truppen besetzten die Flughäfen des Landes, dann rückten Panzer und motorisierte Verbände in Prag ein, offiziell, um die Gefahr eines „konterrevolutionären Putsches“ abzuwenden.
Von welcher Seite dieser Putsch drohen sollte, ließ man allerdings offen. Die Regierung Dubčeks ordnete an, daß jede militärische Abwehr zu unterbleiben habe, wurde festgenommen und unter massivem Druck (es gibt Hinweise auf Folterungen) gezwungen, einem grundsätzlichen Kurswechsel zuzustimmen. Der von der Opposition ausgerufene „Passive Widerstand“ blieb letztlich wirkungslos, mehrere hundert Menschen wurden von den Besatzungstruppen aus nichtigen Anlässen liquidiert. Die Sowjetunion sorgte dafür, daß ihre Leute an die Schalthebel kamen, den Reformern räumte man noch eine Gnadenfrist bis zum Jahresbeginn 1969 ein, um eine weitere Eskalation zu verhindern, dann wurden sie kaltgestellt.
Alle Neuerungen wurden wieder rückgängig gemacht
An die Spitze der KPČ trat mit Gustáv Husák ein „konsequenter Internationalist“, was nichts anderes bedeutete, als daß er die Forderungen Moskaus ohne Widerspruch umsetzen würde. Daß das geschah, dafür sorgte nicht nur die Durchdringung des Apparates mit KGB-Leuten, sondern auch die Stationierung von siebzig sowjetischen Garnisonen auf dem Boden der CSSR. Im Dezember 1970 zog das Zentralkomitee der KPČ die „Lehren aus der Krisenentwicklung“, was bereits andeutete, daß sämtliche Neuerungen des „Prager Frühlings“ rückgängig gemacht wurden.
Unter dem Deckmantel der „Normalisierung“ fand eine Säuberung statt, die zuerst die Partei, dann auch alle anderen Gruppen der Gesellschaft erfaßte. Eine Verhaftungswelle traf Tausende wirklicher oder vermeintlicher Regimegegner. Zu ihnen gehörte auch der Schachgroßmeister Luděk Pachman. Pachman war ursprünglich selbst Kommunist, gehörte während der deutschen Besatzungszeit zu einer Oppositionsgruppe und kam in Gestapohaft.
Nach dem Ende des Krieges sympathisierte er für kurze Zeit mit dem neuen Regime, übte aber Kritik an den Verhältnissen und brach schon vor dem „Prager Frühling“ mit der Partei. Nach der Invasion richtete er Durchhalteappelle an seine Landsleute, aber auch Aufrufe an die internationale Presse und die Uno, in der vergeblichen Hoffnung, daß es zu weltweiten Protesten gegen das sowjetische Vorgehen kommen werde. Die „Breschnew-Doktrin“ – der sowjetische Anspruch, jeden kommunistischen Staat im Zweifel gewaltsam zu hindern, den Block zu verlassen – wurde vom Westen faktisch anerkannt.
Mit dem Gedanken der Freiheit unvereinbar
Im Frühjahr 1969 kam Pachman wie viele andere in Haft. Man mißhandelte ihn schwer, er trat für drei Monate in den Hungerstreik, schließlich durfte er in die Bundesrepublik ausreisen. Als Antikommunist sah Pachman deutlicher als die meisten, daß das kommunistische System aus sich heraus zu keinem echten Wandel fähig sei, weil seine ideologische Grundlage mit dem Gedanken der Freiheit unvereinbar sei, und die Rede vom „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ bleibe „Manipulation und Betrug (…), falls wir unter dem Begriff Sozialismus das verstehen, was ihm einen etwas genauer definierbaren Sinn verleiht: Beseitigung oder äußerste Einschränkung des Privatbesitzes an Produktionsmitteln und eine zentral gelenkte Wirtschaft.“
Der Kollaps des Ostblocks zwanzig Jahre nach dem „Prager Frühling“ spricht für die Richtigkeit dieser Annahme und gegen die sentimentale Klage über die verpaßten Möglichkeiten. Die haben sich auch nicht im Rahmen von „Glasnost“ und „Perestrojka“ verwirklichen lassen, obwohl die machtpolitischen Bedingungen wesentlich günstiger waren als im Fall des tschechoslowakischen Experiments. Sie hatten immer die Realitäten gegen sich.
JF 34/18