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Oppositioneller Nährboden wider Willen

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Die Friedensgebete in der Leipziger Nikolaikirche, denen an jedem Montag die Protestdemonstrationen gegen das SED-Regime folgten, sind längst zu einem der markantesten Symbole für die friedliche Revolution von 1989/90 geworden. Dennoch gibt es bis heute Widersprüche über die tatsächliche Rolle der Kirchen in diesem historischen Prozeß. Auf der einen Seite besteht über die enge Verbindung zwischen der Evangelischen Kirche und der Opposition, die unter ihrem Dach zahlreiche Umwelt- und Friedensgruppen gründete, kein Zweifel. Auf der anderen Seite bemühten sich allerdings zahlreiche Kirchenvertreter noch bis in den Herbst 1989, ein allzu deutliches Aufbegehren gegen die Diktatur zu unterbinden.

Wie ist daher die Rolle der Kirchen in dieser Umbruchszeit konkret zu bewerten? Und was sind die Ursachen für diese Ambivalenzen? Über diese Fragen diskutierten am Mittwoch voriger Woche im Rahmen der Veranstaltung „Kirche in der Revolution. Hemmschuh oder Avantgarde?“ führende kirchliche Akteure von 1989 in der Französischen Friedrichstadtkirche am Berliner Gendarmenmarkt.

Vor 250 Zuhörern umriß der Theologe und Historiker Ehrhart Neubert zunächst die Grundlagen der Kirchenpolitik in der DDR. Einerseits habe gerade in der Evangelischen Kirche nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches die Auseinandersetzung mit der Schuldfrage eine große Rolle gespielt. Dabei sei von vielen Vertretern die Berechtigung des sozialistischen „Antifaschismus“ anerkannt worden. Zudem habe sich der mitteldeutsche Protestantismus traditionell durch Staatsnähe ausgezeichnet. So war auch nach der Gründung der DDR eine starke Neigung dazu vorhanden, sich an das neue System weitgehend anzupassen. Dies sei die Grundlage des fragwürdigen Modells der „Kirche im Sozialismus“ gewesen, so Neubert.

Andererseits wurde freilich den meisten Kirchenvertretern immer mehr bewußt, daß die Kirchen einen Fremdkörper in der SED-Diktatur darstellten. Selbst in den achtziger Jahren hätten führende Funktionäre ihre antireligiöse Haltung nie verbergen können. Längerfristig gab es daher für die Kirche in einer kommunistischen Diktatur keine Perspektive. Aus dieser Erkenntnis resultierte der Wille eines wachsenden Teiles von Kirchenvertretern, Oppositionellen einen Schutzraum zu gewähren.

Gleichwohl hielt die Kirchenleitung weiterhin an ihrer grundsätzlichen Staatstreue fest. Als der SED-Führung die Fälschung der Wahlergebnisse vom Mai 1989 nachgewiesen werden konnte, versuchte sie, stärkere öffentliche Proteste nicht zu fördern, sondern vielmehr „um des Ganzen willen“ zu verhindern, wie es in einer damaligen Erklärung hieß. Erst auf der Synode in Eisenach im September 1989 forderte die Kirche erstmals die Zulassung der Opposition. Auf der anderen Seite stellte sich die Kirchenleitung demonstrativ an die Seite des neuen SED-Chefs Egon Krenz und rief am 9. Oktober in einem Appell dazu auf, „nicht mehr länger zu demonstrieren“. Der damalige stellvertretende Vorsitzende des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR und spätere brandenburgische Ministerpräsident, Manfred Stolpe, forderte die Kirchen dazu auf, ihren Beitrag dazu zu leisten, um ein Treffen des „Neuen Forums“ zu verhindern.

In dieser Situation war der Druck der Kirchenbasis bereits viel zu groß, um solchen Empfehlungen zu folgen. Ohnehin bestand die Opposition zu diesem Zeitpunkt größtenteils aus kirchlichem Personal, welches diese Haltung nicht teilte. Zudem wollten insbesondere die Leipziger Kirchenvertreter die großen Hoffnungen und das in sie gesetzte Vertrauen vieler Menschen nicht enttäuschen und entschlossen sich daher, dem friedlichen Protest auch weiterhin den Segen zu erteilen, so Neubert.

In der anschließenden Diskussion wies der Pfarrer und ehemalige Sprecher des „Neuen Forums“, Bernd Albani, darauf hin, daß die Kirche in der DDR bis zum Ende der achtziger Jahre nicht als Oppositionskraft verstanden werden könne.

Bewahrung des Glaubens an demokratischen Sozialismus

Gleichwohl habe aber die Kirche den Nährboden für die Bildung der Opposition geschaffen, indem sie die Gründung von unabhängigen Friedens- und Menschenrechtsgruppen unter ihrem Dach ermöglichte. Die Vertreter dieser Gruppen übten wiederum von der Basis her immer stärkeren Druck auf die Kirchenleitung aus, die sich diesen Entwicklungen selbst immer weniger verschließen konnte. Auch für den Pfarrer Rudi Pahnke, der bereits seit den siebziger Jahren über zahlreiche Kontakte zu Dissidenten verfügte, stellte das wesentliche Verdienst der Kirchen die Gewährung eines Schutzraumes für Oppositionelle dar, der in dieser Form in der DDR ansonsten nicht existierte. Zudem wurde ein „Netzwerk des Vertrauens“ für viele Menschen geschaffen, die in der kommunistischen Diktatur zum Schweigen und zur inneren Unaufrichtigkeit erzogen worden seien. Hier trauten sie sich wieder, offen über ihre Probleme zu sprechen.

Wie stark trotz dieser Verdienste die diktatorische Vergangenheit gerade bei den Kirchen in Mitteldeutschland nachwirkt, wurde mit dem Beginn des Prozesses der Wiedervereinigung deutlich. Viele Kirchenvertreter seien weder über den rapiden Bedeutungsverlust ihrer Institution nach dem Ende der friedlichen Revolution noch über den Irrglauben an einen demokratischen Sozialismus hinweggekommen, betonte Neubert abschließend. Nicht wenige fühlten sich in der Bundesrepublik nicht angekommen und beurteilten mitunter die Demokratie weitaus kritischer als früher die SED-Diktatur.

Foto: Der prominente Wittenberger Theologe Friedrich Schorlemmer spricht bei der Berliner Großdemonstration am 4. November 1989: Proteste „um des Ganzen Willen“ lieber verhindern helfen

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