Von vielen Medien werden sie mit spitzen Fingern angefaßt: die Zweifler und Renitenten unter den Medizinern, die im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie von „Panikmache“ und „überzogenen Maßnahmen“ seitens der Regierung sprechen.
Ignorieren und als spinnerte Außenseiter abtun kann man sie aber auch nicht, denn die Biographien vieler dieser Wissenschaftler sind durchaus beeindruckend und sprechen deutlich gegen den Verdacht, es könnte sich durchweg um „Verschwörungstheoretiker“ handeln.
Zu jenem Kreis der renommierten Abweichler zählen etwa der ehemalige SPD-Gesundheitspolitiker und Lungenfacharzt Wolfgang Wodarg, der emeritierte Epidemiologe Sucharit Bhakdi, der Immunologe Stefan Hockertz, der Arzt und Medizinhistoriker Karl-Heinz Leven, der Epidemiologe Ulrich Keil oder die ehemalige Direktorin des Instituts für Medizinische Virologie an der Universität Zürich Karin Mölling.
Vereint sind sie nicht nur in ihren sich überschneidenden Ansichten, sondern auch in ihren Lebenssituationen: Alle sind über 60, als Professoren bereits emeritiert oder wie Hockertz, der jüngste aus diesem Kreis, aus der akademischen Laufbahn in die Wirtschaft gewechselt. Zufall ist das offenbar nicht. „Meinen Job kann ich nicht mehr verlieren. Ich bin pensioniert“, sagte etwa Karin Mölling, die in dieser Woche 77 Jahre alt geworden ist, in einem Radiointerview mit dem Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb). Offenbar würde sie darum fürchten, wäre sie noch in akademischen Amt und Würden.
„Panik ist die dritte Epidemie“
Dem öffentlich-rechtlichen Sender sind die klare Kritik und Widerborstigkeit der aktiv forschenden Seniorin offenbar so suspekt, daß er das im Internet nachzuhörende Gespräch mit einer ausführlichen „Klarstellung“ versieht: „Sofern das Interview den Eindruck erweckt hat, daß radioeins die Coronakrise verharmlost, möchten wir uns ausdrücklich dafür entschuldigen“, ist dort zu lesen.
Zu Wort gekommen war Mölling in einem gut zehneinhalb Minuten langen Gespräch mit dem Moderator. Unter anderem verglich die Virologin die Sterberate der neuartigen Covid-Erkrankung mit der der Grippe und jener im Straßenverkehr und bezeichnete die „Panik“ vor dem Coronavirus als „das eigentliche Problem“ und als „dritte Epidemie“ neben Covid-19 – also der Krankheit selbst – („Davon hören Sie von morgens bis abends“) und der saisonalen Grippe („Da redet kein Mensch davon“). Auf einer Skala von eins bis zehn verortete Mölling die Gefährlichkeit des neuen Coronavirus (Sars-CoV-2) bei „drei bis vier“.
Der rbb hatte das Interview am 12. März geführt, an jenem Donnerstag, an dem die Bundeskanzlerin erstmals alle Deutschen dazu aufrief, Sozialkontakte so weit wie möglich zu vermeiden. Das Robert-Koch-Institut (RKI) hatte bis dato acht Corona-Tote in Deutschland gezählt.
Die Faktenlage hat sich geändert
Drei Tage später stellte sich ein junger Virologie-Professor den Fragen der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der im Senkrechtstart zu den neuen Medienlieblingen unter den Experten avancierte: Hendrik Streeck, 42 Jahre jung und seit vergangenem Herbst Leiter des Instituts für Virologie an der Universität Bonn.
„In Deutschland sterben jeden Tag rund 2.500 Menschen, bei bisher zwölf Toten gibt es in den vergangenen knapp drei Wochen eine Verbindung zu Sars-2“, ist dort in einer seiner Antworten zu lesen. „Natürlich werden noch Menschen sterben“, so Streeck weiter, „aber ich lehne mich mal weit aus dem Fenster und sage: Es könnte durchaus sein, daß wir im Jahr 2020 zusammengerechnet nicht mehr Todesfälle haben werden als in jedem anderen Jahr.“
Hohe Wellen geschlagen hat diese Äußerung nicht. Erst recht brachte sie ihn nicht in den Verdacht, ein „Verharmloser“ zu sein. Und niemand versah sein Interview mit einem „Warnhinweis“. Vielleicht weil Streeck sich jede Kritik an der Politik und den Vorwurf der „Panikmache“ verkniffen hatte.
An der Faktenlage hat sich seither einiges geändert. So scheint die Behauptung, die Corona-Pandemie habe kaum Auswirkungen auf die Gesamtsterblichkeit in der Bevölkerung, mittlerweile widerlegt. Aktuelle Zahlen des italienischen Gesundheitsministeriums zeigen, daß in den norditalienischen Städten in der zweiten Märzhälfte doppelt so viele Menschen gestorben sind wie im Durchschnitt. Auch die Berichte von überlasteten Krematorien, die es aus Wuhan genauso gab wie nun aus Italien und New York, sprechen eine deutliche Sprache.
Viele Covid-Tote durch Krankenhauskeime?
Die Behauptung, die Corona-Pandemie wäre vermutlich niemandem aufgefallen, wenn nicht ein Test dafür entwickelt worden wäre, wie etwa Wolfgang Wodarg sie aufstellt, erscheint damit abwegig. „Egal ob wir auf das neue Virus testen würden oder nicht“, Erkrankungen in dieser Intensität würden auf jeden Fall auffallen“, sagte der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit vom Hamburger Bernhard-Nocht-Institut gegenüber der Welt.
In der Tat hat sich die Situation nach jedem nationalen Corona-Ausbruch mit einer erst allmählich, dann explosionsartig steigenden Zahl von Schwerkranken mit Lungenentzündungen – die das Gesundheitssystem erst belasten und später überlasten – ähnlich zugespitzt: erst in Wuhan, dann in Mailand, in Madrid, in Paris und in New York.
Wodarg und andere argumentieren zu Recht, es würden nur Tote gezählt, die mit einer Corona-Infektion gestorben sind, es werde aber nicht untersucht, ob die Infektion tatsächlich auch die Todesursache sei. Angesichts der vielen betagten und mit Krankheiten vorbelasteten Patienten unter diesen Toten ist der Einwand berechtigt.
Seine Schlußfolgerung, daß es in Ländern wie Italien und Frankreich erst dadurch so viele Tote gegeben habe, weil dort lebensgefährliche Krankenhauskeime besonders verbreitet seien, läßt sich nicht von der Hand weisen, andererseits aber auch nicht als alleinige Ursache nachvollziehen. So ragt das in puncto Krankenhaushygiene weltweit fortschrittlichste Land, die Niederlande, gerade nicht allzu positiv bei der Sterberate hervor.
Experten haben nur wenige gesicherte Zahlen
Offenbar liegt es in den Niederlanden weniger an den medizintechnischen Möglichkeiten, sondern eher an ethischen Erwägungen, die Ärzte öfter als anderswo davor zurückschrecken lassen, betagte Patienten überhaupt noch in ein Krankenhaus einzuweisen. „Natürlich schicken Sie keinen Demenzkranken, der nur noch in Embryohaltung im Bett liegt, noch auf die Intensivstation“, sagte die Fachärztin für Altersheilkunde (Geriatrie) Maggy van den Brand von der Pflegeorganisation Archipel aus Eindhoven gegenüber der Zeitung de Volkskrant.
In den katholischen Ländern Südeuropas liegt die Hemmschwelle für eine solche Entscheidung meist höher. „Je weiter Sie nach Süden gehen, desto unaussprechlicher ist es, eine Behandlung abzubrechen, die das Leben unnötig verlängert“, sagte Hans van den Spoel, stellvertretender Leiter der Intensivstation am Amsterdamer Universitätsklinikum de Volkskrant.
Abgesehen von solchen komplexen Begleitumständen, die internationale Vergleiche erschweren, mangelt es aber vor allem noch an den ganz grundlegenden Zahlen. „Ohne genügend große repräsentative Zufallsstichproben, die die Ausbreitung und Gefährlichkeit der Virusinfektionen in der Bevölkerung untersuchen, sind Prognosen über zukünftige Todesfälle nicht haltbar“, äußerte Ulrich Keil, emeritierter Epidemiologe der Universität Münster, gegenüber der Welt.
Darin stimmt der Kritiker mit den Regierungsberatern unter den Virologen durchaus überein. Niemand zweifelt unterdessen, daß es dringend repräsentativer Testreihen bedarf, um festzustellen, wie hoch die Anzahl Infizierter an der Gesamtbevölkerung tatsächlich ist. Denn aller Wahrscheinlichkeit nach zeigen nur 51 bis 81 Prozent der Infizierten überhaupt Krankheitssymptome. Diese Spanne gibt das Robert-Koch-Institut auf der Grundlage dreier Studien an.
Getestet werden derzeit überwiegend die Erkrankten. Auch weil es momentan zwar brauchbare Tests gibt, um eine akute Infektion nachzuweisen, nicht aber, um im nachhinein Antikörper im Blut eines Infizierten nachzuweisen, der nur leichte oder unter Umständen auch gar keine Symptome hatte. Das Imperial College in London kommt in einer Abschätzung für Deutschland auf eine Dunkelziffer von 90 Prozent. Demnach habe es schon Ende März rund 600.000 Infizierte in Deutschland gegeben.
Erst auf der Grundlage eines repräsentativen Massentests auf Corona-Antikörper lassen sich gesicherte Aussagen über die Risiken, nach einer Infektion zu erkranken oder gar zu sterben, treffen. Noch mangelt es an Testverfahren, die sicher und empfindlich genug für eine solche Testreihe sind.
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Antikörpertest
Antikörpertests sind Verfahren, mit denen im Blut einer Person nachgewiesen werden kann, ob er Antikörper (Immunglobuline) gegen ein bestimmtes Virus gebildet hat. Das Immunsystem produziert sie als Reaktion auf Erreger (Antigene). Diese Tests könnten Sicherheit darüber bieten, wie viele Personen den Virus hatten, ohne Symptome zu entwickeln. Personen, die eine Infektion mit dem neuartigen Coronavirus bereits ungetestet und symptomfrei überstanden haben, gehen daher nicht in die Statistiken der Gesundheitsbehörden ein.
Erste Unternehmen wie die Lübecker Firma Euroimmun haben nach eigenen Angaben solche Tests entwickelt. Das Berliner Pharmaunternehmen PharmAct wirbt sogar mit einer hohen Spezifität von 99,8 Prozent. Die Spezifität beschreibt, wie wahrscheinlich gesunde Personen auch als solche erkannt werden. Die Sensitivität gibt das Unternehmen nicht an. Dieser Wert beschreibt, zu welchem Anteil ein Test bei Trägern ein positives Ergebnis liefert. Gegenwärtige, auf der PCR-Technologie beruhende Test weisen dagegen nur den aktiven Virus nach.
Meist wird dazu ein Nasen-Rachen-Abstrich genommen und analysiert. Ob nach einer durchgemachten Infektion eine Immunität aufgebaut wurde, können die gegenwärtigen PCR-Tests nicht zeigen. Ein Problem ist auch eine hohe Unsicherheit von bis zu 30 Prozent gegenüber anderen Coronaviren. Wichtig wären die Zahlen derer, die eine Infektion bereits überstanden haben, für Epidemiologen. Diese gehen davon aus, daß ein Virus bei einer „Herdenimmunität“ von über 70 Prozent keine Epidemie mehr auslösen kann. (mp)
JF 16/20