Schon zwei Stunden vor dem Beginn der Demonstration des „Revolutionären 1. Mai“ sammeln sich auf der Kreuzung Hermannstraße/Flughafenstraße in Berlin-Neukölln Polizeibusse. Schwere, wuchtige Dinger, teilweise mit vergitterten Fenstern. Man scheint auf alles vorbereitet zu sein.
Und es tauchen auch Menschen auf. Nicht bei allen kann man sich sicher sein, daß sie bis zur Demo bleiben, das Aussehen des typischen Neuköllners oder Kreuzbergers ist dem eines potentiellen Demogängers einfach zu ähnlich. Bei einigen ist jedoch ganz klar, worauf sie warten.
Vor einem Späti sind ein paar Stühle aufgestellt, und auf ihnen sitzt ein junges Pärchen und feixt. Sie haben Koffer dabei und witzeln darüber, daß sie mit diesen auf die Demo gehen werden. Offenbar sind sie mit einiger Entfernung angereist. Die Demo scheint beinahe eine Art Touristenattraktion.
Ironische Vokuhilas und lila-türkise Sportanzüge
Gegen 17 Uhr füllt sich der Platz zunehmend. Es ist ein doch auffallend anderes Publikum, als bei den Demonstrationen von Fridays for Future. Zum einen ist es älter, der Großteil der Teilnehmer hat die Mitte der Zwanziger hinter sich, viele sind schon in ihren Dreißigern und Vierzigern.
Zudem ist der Stil deutlich anders. Wo die Teilnehmer bei FFF im Endeffekt nicht groß verbergen, daß sie aus bürgerlichen, sogar wohlhabenden Verhältnissen stammen, versucht die Masse des 1. Mais ganz genau das zu verbergen. Es ist dieser typische absichtlich-schlechter-Geschmack-Stil, der dominiert. Ironische Vokuhilas, lila-türkise Sportanzüge und schlabberige und abgeranzte Kleidung, die aber doch ein wenig zu sehr inszeniert, zu deutlich in feschen Second-Hand-Läden zusammengekauft scheint. Von diesem Verdacht ausgenommen sind die verrauchten Altlinken mit ihren vom Leben gezeichneten Gesichtern. Sie verkörpern glaubhaft ein Prekariat.
Öcalan und Samidoun
Gegen 18 Uhr ist die Kreuzung voll. Ziemlich voll. Etwa 6.000 Leute wird die Polizei später zählen. Dazu gehören ein großer Wagen mit Lautsprechern, von dem zunächst Musik ertönt, nachher dann Reden. Innerhalb des Zuges gibt es zudem mehrere einzelne Gruppen, die sich mit Fahnen und Transparenten ausweisen. Da gibt es solche des SDAJ und kurdische Flaggen, die neben einem Porträt des Terroristenführers Abdullah Öcalan geschwenkt werden. Auf vielen Fahnen sind Hammer und Sichel zu sehen. Eine Gruppe kombiniert sie mit Mohnblumen, ein Symbol, mit dem man in der Ukraine an gefallene Soldaten, unter anderem denen der Roten Armee, erinnert.
Zwei große Blocks für die palästinensische Sache sind zu sehen. In dem ersten wehen Flaggen von Samidoun, jenem linksextremen „Palästinensischen Gefangenensolidaritätsnetzwerk“, das im vergangenen Monat einen Skandal auslöste, als seine Mitglieder auf einer Demonstration Parolen wie „Tod den Juden“ riefen.
Ein Sprecher der Polizei wird der JUNGEN FREIHEIT später mitteilen, daß die Behörden noch vor Beginn der eigentlichen Veranstaltung die Personalien einiger Teilnehmer aufnehmen mussten. Es seien antisemitische Parolen gerufen worden. Später werden im Netz Videos kursieren, auf denen die Samidoun-Anhänger Parolen rufen, die die Berliner Polizei als antisemitisch bezeichnet.
Die antisemitischen Äußerungen haben wir geprüft.
Die Anzeige ist gefertigt und die Ermittlungen führt unser polizeilicher Staatsschutz beim #LKA.#b0105 https://t.co/KjBQzaxrLn— Polizei Berlin Einsatz (@PolizeiBerlin_E) May 1, 2023
„Kommunismus statt Krieg“
Schließlich hallen die ersten Reden vom Lautsprecherwagen. In Zeiten sinkender Reallöhne und Rekordgewinnen sei diese Demonstration umso wichtiger, läßt uns die Rednerin wissen. Der 1. Mai sei kein Feier- sondern ein Kampftag. Der Krieg in der Ukraine zeige wieder einmal, daß der deutsche Staat zur Stelle sei, wenn es darum ginge, die Fließbänder von Heckler und Koch am Laufen zu halten, aber nichts für seine eigenen Bürger zu tun. Damit es in Zukunft keine Kriege mehr gebe, sei der Aufbau und die Organisation des Sozialismus und des Kommunismus dringend notwendig.
Als sich der Zug schließlich in Bewegung setzt, schreckt in einem Hauseingang ein Mann afrikanischer Herkunft hoch. Er hält eine Feuerzeugflamme an ein Glasröhrchen und saugt an diesem. Rasch beugt er sich wieder über das qualmende Röhrchen, zieht noch einige Male und setzt sich dann zufrieden hin. Die Polizei schenkt ihm keine Beachtung.
Die Demonstration bewegt sich in Richtung des Hermannplatzes. Ein iranischer Block fällt ins Auge, zumindest ist er den derzeitigen Protesten in der Islamischen Republik gewidmet. „Jin, Jiyan, Azadi“ steht auf ihrem Transparent, „Frauen, Leben, Freiheit“. Ein anderer Abschnitt erklärt seine Solidarität mit den derzeitigen Bergbauprotesten in Peru. Hier wird getrommelt und gesungen. Auch eine Art eigener Kampfschrei ist zu hören.
Farbeier gegen die Deutsche Bank
Am Hermannplatz fliegen vereinzelte Farbeier gegen die Deutsche Bank. Die Teilnehmer des Schwarzen Blocks zeigen Umstehenden den Mittelfinger und schreien „reiht euch in die Demonstration ein!“ in ihre Richtung. Hin und wieder kracht und wummert in der Ferne ein Böller. Als der Zug in eine Nebenstraße einbiegt, ziehen dichte, gelbliche Rauchschwaden über die Menschenmenge. Sie riechen nach Feuerwerk. Es hat wohl wieder jemand gezündelt.
Auf dem Weg zum Kottbusser Tor ergeben sich mehrere bemerkenswerte Szenen. Da ist etwa die türkische Familie, die in ihrem Hauseingang steht und staunend das Schauspiel beobachtet, das sich ihr bietet. Ein Polizist nähert sich der Familie und streckt der Tochter, einem kleinen, geschätzt sechsjährigem Mädchen, seine Faust zum Gruß hin. Das Mädchen lächelt über beide Ohren und steigt ein, beide stoßen die Faust aneinander. „Ghettofaust“, wie man so schön sagt. Aber es ist wirklich süß.
Kurze Zeit später verirren sich zwei arabische Jugendliche in den Zug. Eigentlich wollen sie durch ihn hindurch. Doch das müssen sie bald aufgeben. Also laufen sie ein Stück mit und schauen immer wieder, ob sie nicht zur linken Seite in eine Nebenstraße ausweichen können. Es kommt keine. Nachdem sie mehrere Minuten im Zug mitgelaufen sind, ruft einer von beiden verzweifelt aus: „Wallah Bruder, was machen wir hier?“
Am „Kotti“ geht gar nichts mehr
Am Kottbusser Tor geht schließlich gar nichts mehr. Die Straßen und Wege sind so eng, daß die Demonstration zum Stehen kommt. Manche Teilnehmer versuchen, über Unterführungen und Einkaufspassagen die Sperrung zu umrunden. Doch dort sind die Wege ebenso versperrt. Die Zahl und Häufigkeit von Böllerexplosionen erhöht sich stark. Bei jedem Knall fliegen die Taubenschwärme, die auf dem Dach des S-Bahnhofs sitzen, erschrocken auf und umkreisen den Platz.
Vereinzelt greift sich die Polizei Unruhestifter aus der Menge heraus und führt sie ab. Die kontert mit „Ganz Berlin haßt die Polizei“-Rufen. Dann geht es noch einmal zur Sache: In der Oranienstraße werfen Autonome Flaschen auf Beamte. Die reagieren mit Pfefferspray und Festnahmen. Nach einer halben Stunde hat die Polizei die Lage wieder unter Kontrolle. Dann lösen sich die Gruppen auf. Der 1. Mai ist zu Ende. Es war einer der friedlichsten seit 1987, als Linke den Tag der Arbeit erstmals zu schweren Krawallen nutzten.
Die mobilen Absperrgitter am #KottbusserTor wurden zum Schutz unserer #Kottiwache aufgestellt. Die Wegstrecke wurde vom Versammlungsleiter selbst gewählt und die Engstelle am #NKZ ist baulich bedingt. In alle anderen Richtungen war der Weg jederzeit frei.#b0105 https://t.co/mLQkGfdgP4
— Polizei Berlin Einsatz (@PolizeiBerlin_E) May 1, 2023