BERLIN. Dutzende Mediziner und Wissenschaftler haben die geplante Einführung einer allgemeinen Impfpflicht gegen das Coronavirus kritisiert. Die von Befürwortern vertretene Auffassung, „daß die kollektive Impfung in der gegenwärtigen Situation alternativlos sei, ist nach derzeitigem wissenschaftlichen Kenntnisstand unhaltbar“, heißt es in einer gemeinsamen Stellungnahme. „Dem Staat fehlt jegliche wissenschaftliche, rechtliche und ethische Legitimation, sich über den Willen von Bürgerinnen und Bürgern hinwegzusetzen.“
„Es gibt keine den üblichen Standards folgenden wissenschaftlichen Daten, die belegen, daß die Impfung für jede Bürgerin, jeden Bürger unabhängig von Alter, Geschlecht, Vorerkrankungen oder anderen Faktoren mehr Nutzen als Schaden stiftet“, schreiben die Mediziner und Forscher rund um den Essener Epidemiologen Karl-Heinz Jöckel, den Münsteraner Kardiologen Ulrich Keil, der Aachener Epidemiologin Angela Spelsberg und den Tübinger Chemiker Andreas Schnepf. Hierzu lägen keine der üblicherweise in Zulassungsverfahren geforderten Daten mit hinreichender Qualität vor.
„Gibt für große Gruppen keine Evidenz für Nutzen“
„Für große Gruppen der Bevölkerung gibt es überhaupt keine Evidenz für einen Nutzen, z.B. für gesunde Kinder und junge Erwachsene oder für Schwangere im ersten Drittel der Schwangerschaft. Dagegen ist ein Schaden nicht auszuschließen, sondern ist mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit sogar anzunehmen“, heißt es in dem Papier weiter. „Solche Gruppen zur Impfung zu nötigen, heißt von ihnen zu fordern, daß sie eine Körperverletzung hinnehmen.“
Die Frage, ob eine Impfung sinnvoll ist oder nicht, sei eine individuelle Entscheidung, die gegebenenfalls nach Rücksprache mit einem Arzt des Vertrauens von jedem Bürger oder von Eltern in eigener Verantwortung beantwortet werden müsse.
Die Unterzeichner gehen auch auf die vermeintliche oder tatsächliche Überlastung des Gesundheitssystems ein. Demnach sei die regelmäßig angeführte „Notlage“ hypothetisch und müsse „nach fast zwei Jahren in einem der bestentwickelten Gesundheitssysteme der Welt als unrealistisch betrachtet werden“. Sofern dennoch Kapazitätsgrenzen erreicht würden, „ist vielmehr nach der politischen und organisatorischen Verantwortung zu fragen“.
Auch Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen sei unverhältnismäßig
Auch eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen wie Krankenhauspersonal oder Pfleger lehnen die Experten ab. Die bisherigen Erfahrungen zeigten, daß die professionelle Hygiene dieser Berufsgruppen ausreichend sei, um Ausbrüche weitestgehend zu verhindern. „Eine generelle Impfpflicht in diesen Berufsgruppen muß somit als unverhältnismäßig angesehen werden, auch und gerade vor dem Hintergrund einer Infizierbarkeit durch Geimpfte.“
Ein konsequenter Infektionsschutz erfordere bei entsprechender epidemischer Lage vielmehr die Testung des Personals unabhängig von dessen Impfstatus. „Auch in dieser Situation hat der Staat nicht das Recht, die individuelle Entscheidung über die Impfung vorzuschreiben, da es niederschwellige Maßnahmen gibt, die den gleichen Zweck erfüllen.“
Strafrechtlerin: Impfpflicht ist nicht angemessen
Auch einige Juristen halten eine allgemeine Corona-Impfpflicht nicht für gerechtfertigt. Die Kölner Strafrechtlerin Frauke Rostalski schrieb in der Welt: „In einer freiheitlichen Gesellschaft müssen sämtliche Interessen Berücksichtigung finden, gegeneinander abgewogen und miteinander in Einklang gebracht werden.“ Die Angemessenheit setze voraus, daß der Nutzen der Maßnahme außer Verhältnis zu den dadurch herbeigeführten Beeinträchtigungen stehen darf. „Sowohl die Erforderlichkeit als auch die Angemessenheit einer allgemeinen Impfpflicht als staatliche Maßnahme zur Pandemiebekämpfung sind allerdings anzuzweifeln.“
So müsse etwa die Frage, ob der Staat bislang genug getan habe, um seine Bürger zur freiwilligen Impfung zu bewegen, verneint werden. Außerdem verwies die Juristin, die auch Mitglied im Deutschen Ethikrat ist, auf das unterschiedlich hohe Risiko eines schweren Verlaufs einer Corona-Infektion je nach Alter. Spezifische Maßnahmen gegenüber denjenigen Gruppen, deren Erkrankung das Gesundheitssystem in besonderer Weise belaste, seien deutlich milder als undifferenzierte Maßnahmen gegenüber allen. Selbst die Angemessenheit einer Impfpflicht nur für Ältere dürfe nicht vorschnell angenommen werden. „Sie muß letztes Mittel bleiben, um der hohen Bedeutung des Rechts auf körperliche Integrität Rechnung zu tragen.“ (ls)