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Marc Jongen, ESN Fraktion

Lageeinschätzung Afghanistan: „Es ist ein durchgängiger Dschihad“

Lageeinschätzung Afghanistan: „Es ist ein durchgängiger Dschihad“

Lageeinschätzung Afghanistan: „Es ist ein durchgängiger Dschihad“

Taliban-Kämpfer ziehen durch Afghanistans Hauptstadt Kabul Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Rahmat Gul
Taliban-Kämpfer ziehen durch Afghanistans Hauptstadt Kabul Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Rahmat Gul
Taliban-Kämpfer ziehen durch Afghanistans Hauptstadt Kabul Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Rahmat Gul
Lageeinschätzung Afghanistan
 

„Es ist ein durchgängiger Dschihad“

Private Sicherheitsdienstleister spielen in Afghanistan eine wichtige Rolle. Im Gespräch mit der JF gibt ein Angehöriger solch eines Unternehmens eine schonungslose Bewertung der Situation in dem Land, die das Versagen der deutschen Politik umso dramatischer erscheinen läßt. Auch zu den Ortskräften äußert er sich.
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Seit dem Abzug der westlichen Truppen ist Afghanistan in wenigen Tagen wieder in die Hände der radikalislamischen Taliban gefallen. Um der chaotischen Lage am Flughafen der Hauptstadt Kabul Herr zu werden und die Evakuierung von sogenannten Ortskräften der Nato-Truppen und deren Angehörigen zu sichern, sind neben US-Einheiten auch wieder Bundeswehrsoldaten im Einsatz.

Deutsche Medien berichten derzeit über jede Aktion der deutschen Truppen, vom Ausfliegen afghanischer Zivilisten bis hin zu Rettungsaktionen für Bundesbürger. Bei Betrachtungen und Analysen über Afghanistan wird zumeist ausgeblendet, daß auch zahlreiche Private Military Contractors (PMC), internationale private Sicherheitsfirmen, für die Nato-Staaten und die afghanische Regierung tätig waren.

Oft verächtlich als „Söldner“ bezeichnet, verrichteten sie im Hintergrund eine Vielzahl von Aufgaben. Von der Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte, Personenschutz für lokale Politiker, der Reparatur und Wartung von modernem Kriegsgerät und Beratertätigkeiten reicht ihr Portfolio.

„Afghanen können sich mit Taliban identifizieren“

Wie wichtig ihre Rolle war, macht die Einschätzung von US-Militäranalysten deutlich, die gegenüber dem Magazin Foreign Policy angaben, der Abzug dieser Firmen vor rund einem Monat sei der Wendepunkt gewesen, an dem klar wurde, daß sich die afghanische Regierung unter dem mittlerweile geflohenen Präsidenten Aschraf Ghani nicht würde halten können.

Gegenüber der JUNGEN FREIHEIT äußerte sich ein Mitarbeiter eines solchen Unternehmens, das in Afghanistan unter anderem für den Schutz von Botschaften zuständig war, anonym über die Lage im Land, den Abzug der westlichen Sicherheitskräfte und den Zusammenbruch der Armee.

Daß das in zwei Jahrzehnten geschaffene Gebilde einer pro-westlichen afghanischen Regierung mit ihren Streitkräften binnen einiger Tage hinweggefegt wurde, wunderte ihn nicht. „Es war absehbar, daß die Taliban so schnell übernehmen und die Regierung aufgeben und die Armee überlaufen würde.“

Das liege auch an einem Faktor, der in europäischen Medien gern ausgeklammert wird. „Es ist nun einmal leider so, daß die Taliban die Lebenssicht des Großteils der afghanischen Bevölkerung und von Teilen der Bevölkerung außerhalb des Landes, wie in Pakistan, in Tadschikistans und einigen anderen detailliert widerspiegeln. Das heißt, viele können sich mit den Taliban identifizieren, möchten schnelle Lösungen haben, möchten eine Expansion des Islams. Sie möchten entweder die komplette Scharia oder eine Scharia-ähnliche Gesetzgebung.“

Afghanische Rekruten: „Desinteressiert, demotiviert, faul“

Die Einschätzung des Sicherheitsexperten zur angeblich „lebendigen Zivilgesellschaft“, die Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) vor wenigen Wochen noch beschwor, fällt ebenfalls eindeutig aus. „Afghanistan teilt sich im Grunde in zwei Gruppen von Personen: in Korrupte und Extremisten. In der Mitte dazwischen gibt es so gut wie nichts. Die einigen wenigen in der Mitte haben wir gesehen, wie sie sich verzweifelt an die Flugzeuge geklammert haben“, spielt er auf entsprechende Szenen vom Flughafen Kabul an.

Und was war mit der afghanischen Armee los? US-Präsident Joe Biden hatte von 300.000 gut ausgebildeten und ausgerüsteten Soldaten gesprochen. Nach jahrelanger Schulung durch internationale Fachleute hätte man annehmen sollen, daß sie die Taliban zurückschlagen würden oder zumindest länger Widerstand leisten könnten.

Doch ohne den entsprechenden Kampfwillen liefen sie lieber zu den Islamisten über oder desertierten. „Die Motivation war null. Niemand konnte sich mit einer westlichen Lebensart vor Ort identifizieren“, erklärt der PMC im Gespräch mit der JF. Zudem seien die afghanischen Rekruten laut seinem Urteil: „Desinteressiert, demotiviert, faul und sehr altertümlich gewesen“, so sein vernichtendes Urteil.

„Insider Attacs“ verstärken Mißtrauen gegenüber Ortskräften

Zudem sei bei inoffiziellen Abhöraktionen von afghanischen Einheiten zutage gekommen, daß viele mit islamistischen Extremisten sympathisierten. Auch das habe dazu beigetragen, daß bei westlichen Truppen und PMCs gegenüber den nun in deutschen Medien gelobten Ortskräften Mißtrauen geherrscht habe.

Terroranschläge durch solche Ortskräfte und angebliche afghanische Helfer untergruben das Vertrauen demnach weiter. Diese sogenannten Insider Attacs zeigten, „daß die Motivation, bei der westlichen Sache mitzumachen, sehr gering“ gewesen sei, erläutert der Sicherheitsexperte, der seit rund zehn Jahren in der Branche der PMCs tätig ist. Die Täter griffen lieber als trojanische Pferde an, anstatt sich neutral zu verhalten oder gar die Sache des Westens zu unterstützen.

Afghanische Sicherheitskräfte bei einer Übung: Geringer militärischer Wert (Archivbild) Foto: picture alliance / Photoshot | -
Afghanische Sicherheitskräfte bei einer Übung: Geringer militärischer Wert (Archivbild) Foto: picture alliance / Photoshot | –

In den deutschen Medien spielten solche Angriffe aus den Reihen der vermeintlichen Verbündeten keine Rolle. Dabei zeigt schon ein Blick in die Gefallenenliste der Bundeswehrsoldaten auf Wikipedia, daß 2011 ein Hauptfeldwebel durch einen Attentäter im Außenposten bei Pol-e Chomri von einem Angehörigen der afghanischen Armee erschossen wurde. Weitere Bundeswehrsoldaten wurden bei dem Angriff verwundet.

Unterschiedliche Weltanschauungen prallen aufeinander

Kopfschüttelnd äußert sich der Sicherheitsberater über die naiven Vorstellungen von einem gesellschaftlichen Wandel in dem Land am Hindukusch. „Stellen sie sich mal einen Afghanen vor, der mal aus Prestigegründen der afghanischen Armee beigetreten ist, aber paschtunisch oder anderweitig traditionell erzogen wurde. Der sieht in der Propaganda der eigenen Leute und im Internet, daß der Westen nur aus Schwulen, Lesben und Gendern besteht. Frauen, die in der Politik sind, Frauen in der Armee, Frauen an der Macht. Wenn er die Wahl hat zwischen den Taliban, die ihn als Mann schätzen und ihm die Möglichkeit geben, über Frauen zu herrschen und Krieger im Dschihad zu sein oder einer anderen Gruppe, der westlichen Welt; was glauben sie, welche Gruppe er dann wählen wird?“ Da prallten zwei unterschiedliche Weltanschauungen aufeinander „wie zwei Betonblöcke“.

Afghanische Dorfälteste sprechen mit US-amerikanischen und kanadischen Soldaten: Weltanschauungen prallen Aufeinander Foto: picture alliance / REUTERS | BAZ RATNER
Afghanische Dorfälteste sprechen mit US-amerikanischen und kanadischen Soldaten: Weltanschauungen prallen Aufeinander Foto: picture alliance / REUTERS | BAZ RATNER

Von den überstürzten und mitunter abenteuerlichen Evakuierungen, wie sie unter anderem die deutschen Botschaftsangehörigen erlebten, seien seine Kollegen vor Ort nicht betroffen gewesen, berichtet der Sicherheitsdienstleister. Sie seien bereits vor Wochen aus dem Land abgezogen. „Wir haben uns vorbereitet und die Situation beobachtet. Das Evakuationsprogramm für Afghanistan sah vor, daß wir relativ frühzeitig, sobald sich ein Abzug der westlichen Truppen abzeichnet, abbrechen und sagen Goodbye.“ Nachdem bereits vor rund zwei Jahren erste Gespräche zwischen den Taliban und westlichen Regierungen aufgenommen wurden, sei ihm klar gewesen, daß die afghanische Regierung sich nicht halten werde.

„Allah hat die Welt für die Gläubigen erschaffen“

Angesichts solcher Einschätzungen und lang vorbereiteter Maßnahmen eines privatwirtschaftlichen Unternehmens mutet es umso grotesker an, daß die Bundesregierung so dilettantisch und verspätet auf die Ereignisse der vergangenen Wochen reagierte. Das Versagen bei der Lageeinschätzung der Nachrichtendienste wirkt vor diesem Hintergrund noch dramatischer.

Über die Zukunft des Landes macht sich der Sicherheitsexperte keine Illusionen. „Für 99 Prozent der männlichen afghanischen Bevölkerung ist die Welt sehr einfach: Allah hat die Welt für die Gläubigen geschaffen. Jedes ungläubige Territorium ist ein zwischenzeitlich besetztes Territorium. Das ist eine Beleidigung für gläubige Moslems. Dieses Territorium gilt es, zurück zu erkämpfen. Es ist ein durchgängiger Dschihad, mal ein kalter, mal ein heißer Dschihad.“

Taliban-Kämpfer ziehen durch Afghanistans Hauptstadt Kabul Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Rahmat Gul
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