Ganz große Kontexte, von der Energiewende über das Euro-Rettungsdesaster bis zur Asylkrise, verbunden mit der Frage, warum der Souverän so mit sich umspringen läßt, entfaltete die Publizistin Gertrud Höhler am Donnerstag abend in der Bibliothek des Konservatismus. Einfache Antworten gab die emeritierte Professorin freilich nicht. Ihr Vortrag „Regieren ohne Opposition – Wie verwundbar ist die Demokratie?“ sprang gespickt mit politischen Anekdoten und Zitaten die jüngste Dekade der Amtszeit Angela Merkels entlang.
Zentral war die Frage, wie die „Königin der kommentarlosen Alternativen“ – Merkels disponibles Wertekonzept eröffne ihr täglich politische Alternativen – im Gravitationsfeld ihrer „schweigenden Autorität“ eine gesamte Parteienlandschaft pulverisieren konnte. Irritiert, orientierungslos und politischer Glaubensgrundsätze beraubt sei nicht nur das Volk, sondern auch der politische Gegner. Die Sozialdemokratisierung und Entnationalisierung der Politik während Merkels Kanzlerschaft hätten aus blutleeren Etiketten eine Einheitspartei geformt, die drauf und dran sei, sich als nächstes die Grünen einzuverleiben.
Fatalismus oder Visionen?
Aber treibt Merkel nur müde im Alltagsfatalismus vor sich hin – „es kommt ja ohnehin, wie es kommt“ – oder treibt sie etwas an? Die Utopie der Vereinigten Europäischen Staaten? Die Illusion einer Währung, die Länder verbindet? Der Weg der fanatischen Entgrenzung sei gepflastert mit Rechtsbrüchen und „die haben wir als Souverän auch mit zu verantworten“, sagte Höhler. „Wir haben die Ehrfurcht vor den Kulturen und der leichten Lebensart unserer Lieblingsurlaubsländer vermissen lassen, als wir als Souverän bei der Rettungsschirmpolitik mitgegangen sind.“
Die Jugend der Südländer blicke bereits auf zehn verlorene Jahre zurück. Tief verwundet seien die Menschen und damit auch die Demokratien der Euroländer. Der Kränkung folge mit Sicherheit ein Rachebedürfnis.
Unberechenbar sei die Führung der Chefin auch im eigenen Land. Der „fingierte Notstand“ in der Energieversorgung sei eine „Operation am offenen Herzen“, sagte die Literatur- und Kunstwissenschaftlerin. Man frage sich staunend, was als nächstes komme, und siehe da, „wir bekommen Elektroautos“.
„Wir können diese Bilder nicht aushalten.“
Das größte Thema des Abends schwelte eine Zeit lang im Lesesaal der Bibliothek. Höhler eröffnete mit einem Zitat des Innenministers Thomas de Maizière: „Auch wenn wir jetzt einige Wochen ein paar harte Bilder aushalten müssen, unser Ansatz ist richtig.“
„Nein“, sagte die Vortragende im fliederfarbenen Hosenanzug, „wir können das nicht aushalten. Und diejenigen, die da ihr Leben aufs Spiel setzen, können das erst recht nicht. Wir steuern alle zusammen in das Chaos einer kollektiven Traumatisierung.“
Wie könne es sein, daß in den Krisenregionen Flugblätter kursierten, die den Bundesadler und das Konterfei Merkels zeigten, zusammen mit der Botschaft „Du bist eingeladen“? Natürlich nur, da dieser Fälschung das Original vorausgegangen sei. Tausende Menschen hätten für ihre Hoffnung mit dem Leben bezahlt.
„Offene Gesellschaften müssen Grenzen setzen.“
Offene Gesellschaften bräuchten keine offenen Grenzen, sondern ein territorial verortetes Selbstbewußtsein, mahnte Höhler. „Wir können nicht mit allen solidarisch sein.“ Das zeige sich nun immer deutlicher. Die politische Elite sei erstaunt, daß die Wähler nicht mehr mitgingen. Die Wähler stünden nur noch ungläubig da angesichts des Schauspiels, das seit vergangenem Sommer die Welt in Atem halte. „Und auch die hier ankommenden Flüchtlinge und Glücksritter sind enttäuscht, nicht das versprochene Paradies vorzufinden.“ Dennoch genieße Deutschland inzwischen das Image einer humanitären Supermacht.
Da ging ein Raunen durch den Saal. Wirklich? Genießt da Deutschland, oder genießt bloß Merkel? Und hat Deutschland dieses Image wirklich, oder ist es nicht doch eher ein Konstrukt der Presse, an das man doch bitte glauben soll?
Da war sie wieder, die Frage, die eine ganze Nation beschäftigt: Beobachten wir politische Fehlleistungen in Serie oder transatlantische Absicht? Will Merkel international fühlende Bürger einer neuen Weltregierung, oder hat sie komplett die Kontrolle verloren? Man wisse es nicht, sagte Höhler, denn die Königin der Alternativen sei schließlich eine schweigende Autokratin.