Der arabische Frühling war gestern. Jetzt im Herbst werden die Früchte geerntet. Die Saat hat der Westen selbst gelegt, als er mithalf, die unsympathischen, aber kalkulierbaren Regimes in Nordafrika zu stürzen. Ein wütender Mob stürmt westliche Botschaften, islamische Führer stellen mit drohendem Unterton politische Forderungen, und Europa zittert, daß ein Flächenbrand entsteht und über das Mittelmeer ausgreift. Schuld daran soll das antiislamische Video „Die Unschuld der Muslime“ sein.
Der Konflikt hat mehrere Ebenen: außen- und innenpolitische, religiöse, kulturelle, gesellschaftliche. Halten wir fest, daß der Film eine Blasphemie und kritikwürdig ist. Wer Andersgläubige beleidigt, fällt hinter die sittlichen Normen zurück, die Lessing vor 250 Jahren aufgestellt hat. Politisch ist der Film gefährlich, weil er mit unkalkulierbaren Gefahren spielt. Seine Macher und Multiplikatoren handeln verwerflich, weil sie vom sicheren Port aus die bedrohten Christen in den muslimischen Staaten zu Geiseln ihrer Provokation machen.
Andererseits ist klar, daß der Streifen nur ein beliebiger Anlaß für die Gewaltexplosion darstellt. Es tobt sich der „Youth bulge“ aus, der Überschuß an zornigen jungen Männern, die keine soziale Perspektive besitzen. Gleichzeitig entlädt sich eine religiöse Inbrunst, für die postreligiöse Gesellschaften kein Sensorium besitzen.
Schärfere Gesetze gegen Blasphemie sind unangebracht
Der Film bewegt sich im Rahmen dessen, was Christen in Deutschland und anderswo tagtäglich über sich ergehen lassen müssen. Man kann Jesus und Maria zu Pornofiguren degradieren, man kann die Symbole des christlichen Glaubens oder das Bild des Papstes mit Fäkalien besudeln, ohne ernsthafte Sanktionen fürchten zu müssen. Das ist im liberalen Rechtsstaat gesetzlich kaum zu verhindern. Ein schärferes Gesetz gegen Blasphemie würde bloß zu neuer Schnüffelei und Bigotterie führen. Stattdessen müßten gesellschaftliche Mechanismen wirksam werden und Taktgefühl und Respekt sowie Kultur- und Geschichtskenntnisse eine innere Barriere bilden.
Denn die Achtung vor dem Heiligen, vor dem, was ihn übersteigt, schuldet jeder Mensch sich selbst, der mehr sein will als ein Bündel aus animalischen Funktionen. Darauf denken viele im Namen einer falsch verstandenen Aufklärung verzichten zu können. Weil der Film die Achtung vor dem Heiligen in seiner islamischen Ausprägung vermissen läßt, bringt er ironischerweise auch den prekären Zustand der westlichen Gesellschaften zur Evidenz.
Wo sind die Verteidiger von „Pussy Riot“ geblieben?
Man denke an den Theaterdonner um die russische Punkband „Pussy Riot“: Die erwachsenen Frauen waren, bevor sie in einer russisch-orthodoxen Kirche ihre blasphemischen Übungen absolvierten, längst keine unbeschriebenen Blätter mehr. Eine von ihnen hatte sich, im neunten Monat schwanger, für eine Gruppensex-Orgie zur Verfügung gestellt und sich später gestohlene Tiefkühlhähnchen in die Vagina eingeführt. Die Bilder dieser sogenannten Kunstaktionen wurden ins Internet gestellt. Inzwischen ist „Pussy Riot“ sogar für den Menschenrechtspreis des Europaparlaments im Gespräch, der nach Andrej Sacharow, einen Mann mit allerhöchsten ethischen Ansprüchen, benannt ist.
Eine Gesellschaft, die so wenig Takt und Selbstachtung besitzt, kann von ihrem religiösen Gegenüber keinen Respekt für sich einfordern. Weder ist sie in der Lage, die Stärke einzuschätzen, die den Andersgläubigen aus ihrer Religion zufließt, noch verfügt sie über die Kraft, um im eigenen Haus mit gebotener Klarheit deren politische Ansprüche zurückzuweisen.
Epreßbarkeit des Staates wird offenbar
Das Vorhaben der Partei Pro Deutschland, den Film öffentlich vorzuführen, verdient aus vielen Gründen Kritik. Die Politiker und Journalisten aber, die ein Verbot verlangen, sind dieselben, die über die russischen „Pussies“ in Verzückung gerieten. Aus ihrer Kritik sprechen keine politischen und moralischen Überzeugungen und erst recht keine Glaubenskraft, sondern das Gefühl der Schwäche und die Angst vor physischer Gewalt.
Damit stellen sie ihre und die Erpreßbarkeit des Staates offen aus. Das ist eine Einladung an die Islamisten im In- und Ausland, von immer mehr deutschen Regeln, Gesetzen und Verfassungsartikeln einen islamfeindlichen Charakter zu behaupten und auf ihrer Abänderung zu bestehen, bis die Unterwerfung von Staat und Gesellschaft vollkommen ist.
Der multikulturelle Staat ist ein Zwangsstaat
Die deutschen „Versteher“ und Beschwichtiger ignorieren in ihrer Panik, daß zwischen der Verfertigung und Veröffentlichung eines Films auf der einen und Mord und Brandschatzung auf der anderen Seite ein qualitativer Unterschied besteht. Unbewußt gehen sie davon aus, daß die Gewaltexzesse eine gleichsam natürliche Folge des Films sind und die Masse der muslimischen Demonstranten also keine Entscheidungsfreiheit über ihr Handeln besitzt, wie sie für Angehörige westlicher Kulturkreise als selbstverständlich angenommen wird.
Damit konstatieren sie einen unterschiedlichen historischen Entwicklungsstand der christlichen und muslimischen Kulturkreise und Gesellschaften, ohne freilich die fällige Konsequenz daraus zu ziehen: Daß beide Religionen innerhalb desselben staatlichen Systems zur Zeit nicht kompatibel sind, zumindest nicht gleichberechtigt und nach europäischen Maßstäben. Der multikulturelle Staat ist nur als Zwangsstaat denkbar, der die Konflikte durch Restriktion, Überwachung und Umverteilung mühsam befriedet und in dem die Gruppe mit dem größeren physischen Drohpotential die Richtung vorgibt.
Die Affäre um den monierten Videostreifen führt uns zurück auf den globalen „Kampf der Kulturen“ (Samuel Huntington). Innenpolitisch sitzen wir in der Multikulti-Falle, in die uns die aktuellen Funktionseliten gesteuert haben.
JF 39/12