In über 60 Jahren Parteienherrschaft kann sich manche zunächst läßliche Praxis zum eklatanten Mißbrauch auswachsen – besonders dort, wo die Politik in eigener Sache entscheidet. So haben die Fraktionen im Bundestag ihre „Zuschüsse“ seit 1950 vervierhundertfünfzigfacht. Zusammen mit den Fraktionen der Länder bekommen sie rund 200 Millionen Euro vom Staat – mehr als die Parteien, die 133 Millionen erhalten. In Bayern, Thüringen und im Saarland haben sich die Fraktionen kürzlich auf einen Schlag fast 50 Prozent mehr genehmigt.
Die Fraktionen können sich ihre Mittel eben selbst bewilligen, sie in schöner Eintracht vor der Öffentlichkeit verbergen und alle möglichen Kontrollen unterlaufen. Diäten, über die die Abgeordneten ebenfalls in eigener Sache entscheiden, können, um Mißbrauch zu verhindern, nur in einem öffentlichen Gesetzgebungsverfahren erhöht werden. Die staatliche Parteienfinanzierung ist durch eine Obergrenze gedeckelt. Für Fraktionen fehlen solche Vorkehrungen bisher meist völlig.
Das Recht wird von den Parlamenten hundertfach gebrochen
Das viele Geld verführt die Fraktionen dazu, ihren Funktionären im Bund und in fast allen Ländern Extra-Gehälter in Millionenhöhe zu zahlen, obwohl solche Zulagen nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verboten sind. Nur für Parlamentspräsidenten, ihre Stellvertreter und für Fraktionsvorsitzende sind – wegen ihrer hervorgehobenen Stellung – Gehaltszulagen ausnahmsweise zulässig. Ansonsten ist die Bezahlung von Abgeordneten von vornherein so bemessen, daß sie auch die Wahrnehmung besonderer Funktionen in Parlament und Fraktion mit abgilt. Nur in den Stadtstaaten ist es anders.
Doch das Recht wird im Bundestag und in den Parlamenten der Flächenländer hundertfach gebrochen und die Zahl der üppig dotierten Stellen immer mehr aufgebläht: Allein die Bundestagsfraktionen von Union und SPD haben zusammen zehn Parlamentarische Geschäftsführer, 19 stellvertretende Fraktionsvorsitzende und 42 Sprecher von Arbeitsgruppen.
Ein überkommenes Privileg von Abgeordneten
Vereinzelte Autoren behaupten allerdings entgegen der herrschenden Auffassung der Staatsrechtslehre, die Extra-Gehälter seien gar nicht verfassungswidrig. Doch dabei handelt es sich regelmäßig um Autoren, die selbst Bedienstete von Fraktionen oder Parlamenten sind, bei denen deshalb – nach der Devise „Wes Brot ich ess’, des Lied ich sing’“ – Befangenheit zu befürchten ist.
Ist der Verfassungsverstoß aber vielleicht nicht so schlimm? Hat, wer eine besondere Funktion in der Fraktion ausübt, nicht automatisch weniger Zeit für einen Zusatzverdienst, verzichtet also auf ein weiteres Einkommen, was durch eine Zulage ausgeglichen werden müßte? Wer so argumentiert, übersieht jedoch das Entscheidende: Trotz voller staatlicher Bezahlung noch unbegrenzt privat dazuverdienen zu können, ist ein überkommenes Privileg von Abgeordneten.
Kein anderer Amtsträger besitzt ein solches Vorrecht. Außerdem erhöht ein Funktionärsamt den Einfluß des Abgeordneten. Im übrigen: Ließe man Extra-Gehälter zu, würden die lukrativen Posten noch weiter ins Kraut schießen und die vom Verfassungsgericht gegeißelte innerparlamentarische Hierarchisierung würde noch ausgeprägter – zumal die Gelder insgeheim, also außerhalb der öffentlichen Kontrolle, gezahlt werden.
Das einer Demokratie unwürdige Versteckspiel ist ärgerlich und nur durch das schlechte verfassungsrechtliche Gewissen des Fraktionsestablishments zu erklären. Obwohl es um Steuergeld geht, verweigern gerade die größten Sünder wie zum Beispiel die Unions- und SPD-Fraktionen im Bund und in Bayern selbst auf Anfrage der Medien jede Auskunft. Den Verstoß gegen das Transparenzgebot und das Zulagenverbot begeht nicht irgendwer, sondern die höchsten demokratischen Organe unseres Landes. Das ist Verfassungsbruch.
Entwicklung hin zu „Fraktionsparteien“
Nehmen selbst die für die Gesetzgebung verantwortlichen Instanzen das Recht nicht mehr ernst, droht dem demokratischen Rechtsstaat ein schwerer Schaden. Eigentlich müßten die Rechnungshöfe das Fischen im trüben unterbinden und – wie in Mecklenburg-Vorpommern – die Rückerstattung der verfassungswidrigen Zulagen fordern.
Noch fataler sind die schleichenden Folgen für die Demokratie. Kaum merklich verschiebt sich nämlich die Struktur der gesamten politischen Willensbildung. Die üppig versorgten Fraktionen, die auch massiv Öffentlichkeitsarbeit betreiben, ersetzen immer mehr die Parteien, die durch Obergrenzen und Mitgliederschwund finanziell beengt sind, und gewinnen zunehmend das Sagen über Programm und Kommunikation. Die Politikwissenschaft spricht deshalb ganz offen von einer Entwicklung hin zu „Fraktionsparteien“
Der Selbst-Bewilligung Grenzen setzen
Alle Vorkehrungen, die die Parteien bei den Bürgern erden sollen, gelten für die Fraktionen aber nicht: weder die vom Grundgesetz geforderte Rückbindung an die Mitglieder noch die mindestens hälftige Finanzierung durch Beiträge und Spenden, noch schließlich die vom Bundesverfassungsgericht zur Verhinderung einer politischen Versteinerung durchgesetzte Beteiligung kleiner und neuer Parteien an der Staatsfinanzierung, wenn sie mindestens 0,5 Prozent der Stimmen erlangt haben.
So droht aus der innerparteilichen Willensbildung von unten immer mehr eine von oben zu werden. Das schlägt der Demokratie ins Gesicht und befeuert die anschwellende Parteienverdrossenheit in unserem Land. Es ist höchste Zeit, wirksam gegenzuhalten. Den Selbst-Bewilligungen der Fraktionen können wohl nur eine kritische Öffentlichkeit, eine problemorientierte Staats- und Politikwissenschaft, die Rechnungshöfe und die Verfassungsgerichte gemeinsam Grenzen setzen.
Prof. Dr. Hans Herbert von Arnim ist Verfassungsrechtler. Soeben erschien sein Buch „Der Verfassungsbruch. Verbotene Extra-Diäten – Gefräßige Fraktionen“.
JF 17/11