BERLIN. Für Aufsehen sorgte der ehemalige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Winfried Hassemer, mit seinen Aussagen zu sogenannten „Ehrenmorden“. In einem Gespräch mit Spiegel-Online sah der Ex-Spitzenrichter bei derartigen Hinrichtungen möglicherweise den Fall eines „Verbotsirrtums“ gegeben.
„In Deutschland leben viele Menschen, die unter ganz anderen Normen aufgewachsen sind und die sich anderen Normen als unseren westlichen verpflichtet fühlen – Stichwort Ehrenmord“, stellte das Internet-Portal fest.
Auf die Frage, wie damit strafrechtlich umgegangen werden soll, antwortete Hassemer wörtlich: „Meine Meinung ist da vielleicht ein bißchen anders als die der Mehrheit. Ich finde, bei einer derartigen Tat müssen auch der soziale Kontext und die Sozialisation des Täters bedacht werden. Er lebt vermutlich in anderen sozialen Mustern.“ Daher müsse man auch einen Verbotsirrtum in Erwägung ziehen.
„Normatives Bewußtsein“ des Täters als Maßstab
Der Verbotsirrtum ist in Paragraph 17 des Strafgesetzbuches festgehalten: „Fehlt dem Täter bei Begehung der Tat die Einsicht, Unrecht zu tun, so handelt er ohne Schuld, wenn er diesen Irrtum nicht vermeiden konnte.“ Hätte der Täter den Irrtum vermeiden können, so könne die Strafe gemildert werden.
Die strikte Durchsetzung eines übergeordneten Rechts, eines „ordre public“, lehnt Hassemer in diesen Fällen ab. Denn dieses besage, „daß es derartige Verbrechen nicht bei uns geben darf und daß man sie auch nicht entschuldigen kann. Deshalb wird dem Täter am Ende ein niedriger Beweggrund vorgeworfen.“
Damit werde die Tat aber als „Mord“ gewertet. „Ich finde, diese Verschärfung ist zu abstrakt, sie geht zu schnell, und sie geht sehr weit.“ Daher möchte Hassemer anregen, „den Blick zu weiten“ und „das entschuldigende Element zu stärken“. Man müsse auf den Zustand des „normativen Bewußtseins“ des Täters Rücksicht nehmen: „Das ist modern und menschenfreundlich.“ (FA)