Euer Hochwohlgeboren, Herr Professor Eitel, Herr Ministerpräsident Kretschmann, meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Studenten, herzlichen Dank für die Einladung nach Heidelberg. Es ist mir eine große Ehre, hier an einer der ältesten Universitäten des Kontinents Universitäten zu sprechen.
Es ist ein Ort, der Dutzende von Generationen von herausragenden Europäern ausgebildet hat. Viele große Deutsche, natürlich, aber auch viele Polen. Einer war sogar ihr Rektor. Heidelberg ist eine wunderschöne Stadt, die seit Generationen aufgebaut und gepflegt wird. Und doch hat diese wunderbare Stadt, die in vielerlei Hinsicht ein Mikrokosmos Europas ist, viel Böses, Gewalt, Krieg und Gräueltaten erlebt.
Heute kehren sie auf traurige Weise auf unseren Kontinent zurück. Europa befindet sich an einem historischen Wendepunkt. Noch gravierender als während des Zusammenbruchs des Kommunismus. Die meisten dieser waren diese Veränderungen friedlich. Heute, wo die ganze Welt von einem russischen Angriffskrieg bedroht ist, kommen einem die Zeiten von vor 70 und 80 Jahren in den Sinn.
Für die Zukunft Europas ist Rolle der Nationalstaaten entscheidend
Heute möchte ich mit Ihnen über vier wichtige Themen sprechen, die für die Zukunft Europas entscheidend sind. Daher werde ich meine Rede in vier Abschnitte unterteilen. In jedem dieser Abschnitte werde ich auf ein Thema eingehen, das ich für grundlegend halte – die Rolle der Nationalstaaten.
Ich werde mit dem ersten großen Thema beginnen:
- Was uns die Geschichte Europas heute lehrt.
Dann werde ich zum nächsten Thema übergehen:
- Die Bedeutung des Kampfes der Ukraine gegen Rußland und welche Schlußfolgerungen wir für Europa aus dem Krieg in der Ukraine ziehen können.
Im weiteren Verlauf werde ich mich einem dritten Thema widmen:
- Was europäische Werte sind und was sie derzeit bedroht und
- schließlich werde ich erörtern: Wie Europa die Rolle einer globalen Führungsmacht übernehmen kann.
Was lehrt uns die Geschichte Europas? Wenn wir fragen, was uns die Geschichte Europas lehren kann, möchte ich mit unseren Beziehungen beginnen. Polnisch und Deutsch. Wir sind seit über elf Jahrhunderten Nachbarn. Wir haben gelebt, gearbeitet, uns Sorgen gemacht und unsere Probleme gelöst, nicht nur Seite an Seite, sondern oft gemeinsam. Wir gründeten unsere ersten Universitäten – in Krakau im Jahr 1364, in Heidelberg im Jahr 1386.
Deutschland und Polen sind wichtig füreinander
Es gab viele deutschstämmige Polen oder Deutsche polnischer und slawischer Abstammung im Laufe der Jahrhunderte. Heute arbeiten Polen und Deutsche wirtschaftlich eng zusammen, was zu gegenseitiger Abhängigkeit führt.
Wir sind der fünftgrößte Handelspartner Deutschlands, nach China, den USA, den Niederlanden und Frankreich. Bald werden wir auf den vierten Platz vorrücken und Frankreich überholen. Und dann sogar auf den dritten. Viele wissen es nicht, aber Russland rangiert auf Platz 16.
Und Polen ist heute, zusammen mit anderen Ländern der Visegrad-Gruppe heute ein weitaus wichtigerer Partner als China oder die USA. Es ist erwähnenswert, wie wichtig Deutschland und Polen füreinander sind. Und obwohl wir in einigen Fragen unterschiedliche Perspektiven haben, haben wir auch viele gemeinsame Probleme, die wir überwunden werden müssen.
Polen kämpft bis heute mit dem grausamen Erbe des Zweiten Weltkriegs. Damals verloren wir unsere Unabhängigkeit, unsere Freiheit und über fünf Millionen Bürger. Polnische Städte lagen in Trümmern und über tausend Dörfer wurden brutal befriedet. Während sich Westdeutschland frei entwickeln konnte, verlor Polen 50 Jahre seiner Zukunft durch den Zweiten Weltkrieg.
Wir brauchen Versöhnung
Ich will mich in meiner Rede nicht mit diesem Thema aufhalten, aber ich kann es nicht übersehen. Polen hat von Deutschland nie eine Entschädigung für die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs, für die Zerstörung, das geraubte Eigentum und Schätze der nationalen Kultur erhalten.
Schließlich ist eine vollständige Versöhnung zwischen Täter und Opfer nur möglich, wenn es eine Wiedergutmachung gibt. In diesem entscheidenden Moment in der Geschichte Europas brauchen wir diese Versöhnung mehr denn je, denn die Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind groß.
Die Geschichte Europas – mit ihrer größten Wunde, dem Zweiten Weltkrieg – warf mein Land, zusammen mit vielen anderen, für fast ein halbes Jahr hinter den „Eisernen Vorhang“.
Zusammen mit Gleichaltrigen wuchsen wir auf, gingen zur Schule, zur Arbeit oder zum Studium im Schatten der kommunistischen Verbrechen. Millionen von jungen Europäern, die hinter dem Eisernen Vorhang lebten, wußten, daß es auf der einen Seite Freiheit gab und auf der anderen Seite den russischen Kolonialismus.
Der Kampf gegen die kommunistische Sklaverei war ein Kampf um die nationale Souveränität
Souveränität für die einen, imperiale Herrschaft für die anderen. Auf der einen Seite das lang ersehnte freie Europa. Auf der anderen Seite ein barbarischer Totalitarismus. Das Leben unter der Fuchtel von Sowjetrußland. Wenn uns jemand gesagt hätte, daß wir das Ende des Kommunismus noch erleben würden, hätten wir ihm nicht geglaubt. Wie die meisten Experten für Sowjetrußland aus dem Westen.
Und doch ist es passiert! Polnische Solidarität – „Solidarność, der Krieg in Afghanistan, Papst Johannes Paul II. und die harte Haltung der USA während der Reagan-Ära führten zum Sturz des verbrecherischen Kommunismus. Die Zeit der Demokratie war gekommen.
Heute möchte ich die Rolle der Souveränität des Nationalstaates bei der Aufrechterhaltung der Freiheit der Nationen hervorheben. Der Kampf der versklavten Völker Mitteleuropas war im Kern ein Kampf um nationale Souveränität. Diese Angelegenheit vereinte alle Patrioten quer durch das politische Spektrum, weil wir glaubten, daß unsere Rechte und Freiheiten nur im Rahmen wiedererlangter souveräner Staaten gesichert werden können. Und wir hatten Recht. Besonders deutlich wurde dies in Zeiten der sozialen und wirtschaftlichen Krise. Selbst während der jüngsten COVID-19-Krise haben wir gesehen, daß effiziente Nationalstaaten grundlegend für den Schutz der Gesundheit der Bürger sind.
Schon während der Schuldenkrise gab es einen klaren Konflikt zwischen den südeuropäischen Ländern: Griechenland, Italien und Spanien und supranationalen Institutionen, die in ihrem Namen wirtschaftliche Entscheidungen ohne demokratisches Mandat getroffen haben. In beiden Fällen stießen wir an die Grenzen der supranationalen Steuerung in Europa.
Ein politisches System, das die Souveränität der anderen nicht respektiert, wird früher oder später zur Tyrannei
In Europa wird nichts die Freiheit der Nationen, ihre Kultur, ihre soziale, wirtschaftliche, politische und militärische Sicherheit besser schützen als Nationalstaaten. Andere Systeme sind illusorisch oder utopisch. Sie können durch zwischenstaatliche und sogar teilweise supranationale Organisationen, wie die Europäische Union gestärkt werden, aber die Nationalstaaten in Europa können nicht ersetzt werden. Europa ist viel früher entstanden als die amerikanische Republik, deren Einheit ebenfalls durch Bürgerkriege geschmiedet wurde. Deshalb so irreführend, auf diese historische Analogie zu verweisen.
Jedes politische System, das die Souveränität der anderen nicht respektiert, die Demokratie oder den elementaren Willen der Nation nicht respektiert, wird früher oder später zur Utopie oder Tyrannei.
Es war das christliche Europa, das eine Zivilisation hervorbrachte, die die Menschenwürde mehr als jede andere respektierte. Diese Zivilisation ist schützenswert. Vor allem, wenn man mit hartherzigen und immer stärker werdenden Zivilisationen konfrontiert ist, für die demokratische und liberale Werte keine Rolle spielen. Wir wollen ein starkes Europa aufbauen, um die globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu begegnen.
Es ist die Größe der Europäischen Union, die sie zu einer bedeutenden Kraft in der Welt macht, nicht ihr zunehmend unverständliches Entscheidungssystem. Wir brauchen ein Europa, das durch seine Nationalstaaten stark ist, und nicht eines, das auf den Ruinen dieser Staaten aufgebaut ist. Ein solches Europa wird nie eine Kraft haben, denn die politische, wirtschaftliche und kulturelle Kraft Europas beruht auf der Lebenskraft der Nationalstaaten.
Kampf der Ukrainer ist eine heroische Manifestation der Verteidigung des Nationalstaates und der Freiheit
Die Alternativen sind entweder eine technokratische Utopie, die sich einige in Brüssel vorzustellen scheinen, oder ein Neo-Imperialismus, der bereits durch die moderne Geschichte diskreditiert wurde. Der Kampf der europäischen Nationen um Freiheit endete nicht 1989. Das sieht man am besten an unserer Ostgrenze.
Zweitens: Ich möchte nun zu einem Thema übergehen, das für Europa von entscheidender Bedeutung ist. Zur Ukraine. Ich werde auf die Bedeutung des Kampfes der Ukraine vom Standpunkt unserer gemeinsamen europäischen Werte erörtern. Außerdem werde ich darlegen, welche Schlußfolgerungen wir daraus ziehen sollten.
Wofür kämpfen die Ukrainer heute wirklich? Wofür sind sie bereit, ihr Leben zu riskieren? Warum haben sie nicht sofort vor der zweitstärksten Armee der Welt kapituliert?
Der Kampf der Ukrainer für das Recht auf nationale Selbstbestimmung ist eine weitere heroische Manifestation der Verteidigung des Nationalstaates und der Freiheit. Aber um den Willen zum Kampf zu haben, muß man wirklich an das glauben, wofür man kämpft.
Heute kämpfen die Ukrainer nicht nur für ihre eigene Freiheit. Seit dem 24. Februar 2022 kämpfen sie auch täglich für die Freiheit von ganz Europa. Und es ist auch unsere Zukunft, die davon abhängt, wie sich dieser Krieg entwickelt. Die Niederlage der Ukraine wäre die Niederlage des Westens. In der Tat, der gesamten freien Welt. Eine Niederlage größer als die von Vietnam.
Um einen Dritten Weltkrieg zu verhindern, muß Rußland gestoppt werden
Nach einer solchen Niederlage würde Rußland wieder ungestraft zuschlagen und die Welt, wie wir sie kennen, würde sich dramatisch verändern. Eine lange Reihe von gefährlichen Unbekannten würde folgen. Die Niederlage der freien Welt würde wahrscheinlich Putin ermutigen, so wie die Beschwichtigungspolitik in den 1930er Jahren Hitler ermutigt hat.
Wie Hitler damals genießt auch Putin eine große öffentliche Unterstützung. Es ist keine Übertreibung zu sagen, daß wir mit der Gefahr eines Dritten Weltkriegs konfrontiert sind. Um dies zu verhindern, müssen wir aufhören, die Bestie zu füttern.
Die Geschichte spielt sich vor unseren Augen ab. Wenn unsere Kinder ihre Schulbücher lesen, werden sie sich fragen, ob wir genug getan haben, um ihnen eine friedliche Zukunft zu sichern. Haben wir an sie und das langfristige Wohl unserer Länder gedacht oder nur an kurzfristige Bequemlichkeit und das Aufschieben von schwierigen Entscheidungen auf später? Haben wir aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt oder werden wir sie wiederholen?
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Nun ein paar Bemerkungen dazu:
2.1 Warum ist dies ein Wendepunkt in der europäischen Geschichte? Bis kurz vor dem 24. Februar hatte ich gehört, daß Putin die Ukraine nicht angreifen würde. Viele Politiker in Europa zogen es vor, dies zu glauben, in der Hoffnung den „Wandel durch Handel“ mit Rußland auf Kosten Mitteleuropas fortsetzen zu können.
Kommen wir in diesem Zusammenhang auf die Frage zurück: Wofür kämpfen die Ukrainer? Wären sie nur auf materielle Güter fixiert und nicht durch Gemeinschaftsgefühl, hätten sie längst aufgegeben. Genau darauf hat Putin gesetzt. Er glaubte, daß die Ukrainer den Frieden der Freiheit vorziehen würden. Aber er hat sich geirrt.
Putin beabsichtigt, nationale Identitäten zugunsten eines russischen Imperiums zu zerstören
Und warum? Worin bestand der Fehler des Kremls? Putin ist kein Wahnsinniger, wie viele derjenigen, die seit 20 Jahren mit ihm Geschäfte gemacht haben, glauben machen wollen. Putin war geblendet von seiner eigenen Sicht der Welt. Er war nicht in der Lage zu sehen, daß die Ukrainer eine Nation sind. Und jetzt haben sie endlich ihren eigenen Nationalstaat – auch wenn er bei weitem nicht perfekt ist, sind sie bereit, ihr Leben dafür zu opfern.
Die russische Propaganda behauptet, es gäbe so etwas wie eine eigenständige ukrainische Nation nicht. Wir alle kennen das Sprichwort: „Wenn die Fakten nicht zur Theorie passen, ändere die Fakten“. Aus diesem Grund versucht Rußland, den Ukrainern mit Gewalt zu erklären, daß sie kein Recht auf eine nationale Identität haben.
Und doch sind es die Enkel der Soldaten, die heute ihr Leben für eine freie Ukraine riskieren, die eines Tages in der Schule stolz sagen werden: Mein Großvater hat bei Cherson gekämpft! Und meiner hat den Angriff auf Kiew abgewehrt! Mein Großvater ist in Mariupol gefallen. Und die Soldaten von heute, diese zukünftigen Großeltern, wissen, daß sie auch dafür kämpfen, daß ihre Enkel in einem freien Land leben können. Laßt uns nicht vergessen: Eine Nation ist eine Gemeinschaft der Lebenden, der Toten und derer, die noch geboren werden.
Europa ist heute Zeuge von Verbrechen, die im Namen einer antinationalen Ideologie begangen werden. Das ist es, was Putin antreibt: der Wunsch, alle Unterschiede zu beseitigen, alle nationalen Identitäten zu zerstören und sie mit dem großen russischen Imperium zu verschmelzen. In Russkij mir.
Die russische Propaganda hat wiederholt den falschen Vorwurf des ukrainischen Faschismus erhoben. Das ist genau das, was Stalin gesagt hat: „Nennt eure Gegner Faschisten oder Antisemiten. Man muß diese Epitheta nur oft genug wiederholen.“
Die Politik des „Deals“ mit Rußland ist gescheitert
Es muß klar gesagt werden: Ein Faschist ist jemand, der andere Nationen zerstören will. Es ist jemand, der die Menschenrechte verletzt und die Menschenwürde mit Füßen tritt. Der Faschist heute ist Wladimir Putin und alle Komplizen der russischen Aggression. Als Europäer haben wir die Pflicht, uns dem russischen Faschismus entgegenzustellen. Das ist die europäische Identität.
2.2 Welche Lehren sollten wir aus dem Krieg in der Ukraine ziehen?
Die Ukrainer erinnern uns heute daran, was Europa sein sollte. Jeder Europäer hat das Recht auf persönliche Freiheit und Sicherheit. Jede Nation hat das Recht, wichtige Entscheidungen über die Zukunft ihres Territoriums zu treffen. Demokratie kann auf kommunaler, regionaler oder nationaler Ebene umgesetzt werden, überall dort, wo es Bindungen gibt, die auf einer gemeinsamen Identität beruhen. Daher wäre eine Entscheidung, bei der 140 Millionen Russen für die Eingliederung der Ukraine in Rußland stimmen und 40 Millionen Ukrainer mit „Nein“ stimmen würden nicht demokratisch, oder?
Welche weiteren Lehren lassen sich aus dem mehr als ein Jahr andauernden Krieg in der Ukraine ziehen? Eines ist für mich klar: Die Politik des „Deals“ mit Rußland ist bankrott. Diejenigen, die jahrzehntelang ein strategisches Bündnis mit Rußland wollten und die europäischen Länder in der Energieversorgung von Rußland abhängig machten, haben einen schrecklichen Fehler gemacht. Diejenigen, die vor russischem Imperialismus warnten und immer wieder sagten, man solle Rußland nicht trauen, hatten Recht.
Diejenigen, die jahrelang russische Kriegsvorbereitungen finanziert, Europa entwaffnet und den Schwächeren eine Partnerschaft mit Rußland aufgezwungen haben, tragen die politische Mitverantwortung für den Krieg in der Ukraine. Und für die aktuellen Wirtschafts- und Energieprobleme, mit denen hunderte Millionen Europäer nun zu tun haben.
Putin verhält sich wie ein Drogendealer, der die erste Dosis gratis gibt, weil er weiß, daß der Süchtige später zurückkommt und jedem Preis zustimmt. Putin ist gerissen, aber er ist nicht brillant. Europa erlag ihm vor allem deshalb so leicht, weil es selbst schwach ist. Diese Schwäche war die Verfolgung von Partikularinteressen auf Kosten anderer Länder.
Wären wir bereit, unsere Nation zu verteidigen, wenn wir angegriffen werden?
Wenn die einzelnen Nationen der Europäischen Union versuchen, andere zu dominieren, könnte Europa in die gleichen Fehler der Vergangenheit verfallen. Und alle Entscheidungen, den russischen Aggressor zu stoppen, könnten wieder rückgängig gemacht werden. Dies wird geschehen, wenn einige der größten Länder entscheiden, daß es für ihre Eliten profitabler ist, mit dem Kreml Geschäfte zu machen, selbst wenn dies Blut kostet. Heute ist es ukrainisches Blut. Morgen könnte es litauisches, finnisches, tschechisches, polnisches, aber auch deutsches oder französisches sein. Wir müssen verhindern, daß dies geschieht.
Drittens: Diese Lektionen sollten uns veranlassen, die grundlegende Frage zu stellen: Was sind die europäischen Werte heute und was bedroht sie? Und ich werde mich jetzt auf diese dritte „wichtige Frage“ konzentrieren.
Was den materiellen Wohlstand anbelangt, so leben wir in den besten Zeiten. Aber hat dieser Wohlstand unseren Geist getötet? Ist es uns noch wichtig, wofür wir leben? Wären wir bereit, unsere Häuser, unsere Lieben, unsere Nation zu verteidigen, wenn wir angegriffen werden?
Diese Spannung zwischen dem Reich des Geistes und der Materie ist nicht neu. Wir befinden uns schließlich an der Universität, an der Hegel Professor war. In der Literatur haben sich nur wenige mit diesem Problem so befaßt wie der große Thomas Mann, „das Gewissen Deutschlands“ in der Zeit der deutschen Naziverbrechen. Es sind die Helden Manns, die nach einem höheren, gehobenen Sinn des Lebens streben – nicht nur nach der Anhäufung von Gütern und deren Konsum.
In den vergangenen Jahrzehnten sind viele Europäer zu der Überzeugung gelangt, daß Konsum, gespickt mit oberflächlichen Behauptungen über „europäische Werte“, die letzte Stufe der Geschichte sei. Wir sind gegen diesen Ansatz. Andere mit der Peitsche der „europäischen Werte“ zu schlagen, ohne sich auf deren Definition zu einigen oder zu verstehen, welche Veränderungen in den einzelnen Ländern vorgenommen werden müssen, ist – ganz im Sinne Thomas Manns -selbstzerstörerisch für die Europäische Union.
Ich warne alle, die einen europäischen Superstaat schaffen wollen: Das wird zu nationalen Revolten führen
Einst war das Symbol Europas die antike Agora. Ein Ort, wo jeder Bürger gleichberechtigt sprechen konnte. Heute wird die europäische Agora allzu oft durch die Büros der Brüsseler Institutionen ersetzt, wo Entscheidungen hinter verschlossenen Türen getroffen werden. Wie ein europäischer Politiker einmal unverblümt über den Mechanismus der EU-Institutionen sagte: „Wir beschließen etwas. Wenn es keinen Aufschrei gibt, weil die meisten Menschen nicht verstehen, was umgesetzt wurde, machen wir Schritt für Schritt weiter bis zu dem Punkt ohne Rückkehr.“
Dies ist ein kurzer Weg für die EU zu einer bürokratischen Autokratie. Neben den neuen geopolitischen Gegebenheiten wird nun auch das Schicksal der Europäischen Union bestimmt. Wird sie eine demokratische Gemeinschaft oder eine bürokratische Maschine und zentralistische Struktur?
In der Politik geht es immer um eine Entscheidung. Aber diese Wahl muß an der Wahlurne getroffen werden, nicht in der Abgeschiedenheit der Büros von Bürokraten. Wollen wir wirklich eine gesamteuropäische kosmopolitische Elite mit immenser Macht, aber ohne ein Wahlmandat?
Ich warne alle, die einen Superstaat schaffen wollen, der von einer kleinen Elite regiert wird. Wenn wir die kulturellen Unterschiede ignorieren, wird das Ergebnis die Schwächung Europas und eine Reihe von Revolten, vielleicht sogar ein neuer Völkerfrühling wie der von 1848 sein.
Damals haben die Deutschen große Anstrengungen unternommen, um einen geeinten und modernen Staat aufzubauen. Sie mußten zwanzig Jahre auf das politische Ergebnis warten, aber sie waren siegreich. Heute stehen wir vor einem ähnlichen Dilemma. Wenn die Herrscher Europas, wie die Aristokraten vom Typ Metternichs damals, die Macht der Eliten und die Durchsetzung ihrer Werte von oben bevorzugen, werden sie letztlich auf Widerstand stoßen. Er mag früher oder später kommen, aber er ist unvermeidlich.
Europa sollte Kathedrale des Guten und eine Universität der Wahrheit sein
Es lohnt sich, auf die grundlegende Frage zurückzukommen: Was sind europäische Werte? Und was noch wichtiger ist: Was ist Europa?
Seine Geschichte begann nicht vor ein paar Jahrzehnten. Europa ist mehr als zwei Jahrtausende alt. Europa erwächst aus dem Erbe der alten Griechen, Römer und des Christentums. Das sind unsere Wurzeln, aus denen wir erwachsen sind, wir können uns nicht von ihnen abnabeln. Es gibt kein Europa ohne die hoch aufragenden gotischen Kathedralen oder die Bauten der Universitäten. Europa schwebte immer auf den Flügeln des Glaubens und der Vernunft. Und das universitäre Bildungsmodell, das in Europa geschaffen wurde, hat sich in der ganzen Welt verbreitet. Dies geschah, weil die europäische Universität ein Raum war für Diskussionen und das Aufeinanderprallen gegensätzlicher Ideen – das Umfeld für die Entdeckung der Wahrheit.
In Europa sollte es keinen Platz für Zensur oder ideologische Indoktrination geben. Das haben wir schon in der Vergangenheit durchgemacht, als die kommunistischen Behörden uns vorschrieben, was wir zu denken hatten. Das haben auch die Deutschen in der Hitlerzeit erlebt, als die Bücher freidenkerischer Autoren verbrannt wurden.
Europa sollte eine Kathedrale des Guten und eine Universität der Wahrheit sein! Auch hier gilt es zu betonen, daß verschiedene Verbote, willkürliche Entscheidungen darüber, was innerhalb der Mauern der Universitäten gelehrt wird sowie die politische Korrektheit die ewige Aufgabe der Akademie untergraben, nämlich die Suche nach der Wahrheit.
Und so wie wir unser materielles Erbe schützen, sollten wir auch unser geistiges Erbe schützen, das aus Dutzenden von verschiedenen kulturellen und sprachlichen Traditionen besteht. Europas Stärke lag über die Jahrhunderte hinweg in seiner Vielfalt. Wir teilen gemeinsame Werte, aber jede Nation hat ihre eigene Identität. Gleichschalten, uravnilovka, ist eine Straße ins Nirgendwo.
Adenauer und De Gaulle legten das Fundament
Deutschland und Frankreich sind zwei zentrale Akteure in Europa. In den 75 Jahren zwischen 1870 und 1945 haben sie drei Kriege geführt – und erst nach dem letzten wurde eine Versöhnung erreicht. Diese Versöhnung trägt heute Früchte in den besonderen politischen Beziehungen zwischen Berlin und Paris. Diese besondere gegenseitige Sensibilität für die Beweggründe und Befindlichkeiten der beiden Hauptstädte ist aus einer tragischen Vergangenheit heraus gewachsen.
Um des europäischen Gleichgewichts willen, aber auch wegen der tragischen Vergangenheit, ist das gleiche Modell der gegenseitigen Sensibilität auch für die Interessen Warschaus erforderlich. Heute spüren wir nicht das gleiche Gefühl für diese Sensibilität in Warschau.
Das Fundament für diese Versöhnung wurde von zwei großen Europäern gelegt – Charles de Gaulle und Konrad Adenauer. Beide wollten einen dauerhaften Frieden in Europa schaffen. Sie verstanden, daß gegenseitiger Respekt und das Wissen um die um die Wurzeln des anderen die Voraussetzung für eine Zusammenarbeit sind. Bundeskanzler Adenauer sagte: „Wenn wir uns jetzt von der Quelle unserer europäischen Zivilisation entfernen, die aus dem Christentum hervorgegangen ist, ist es unmöglich, daß wir nicht scheitern, wenn wir versuchen, die Einheit des europäischen Lebens wiederherzustellen. Dies ist das einzig wirksame Mittel zur Erhaltung des Friedens.“
General de Gaulle war sich sowohl des großen kulturellen Erbes Europas als auch der Schrecken des „inneren Krieges“ bewußt. De Gaulle sagte: „Dante, Goethe, Chateaubriand gehören alle zu Europa in dem Maße, in dem sie in hervorragender Weise Italiener, Deutsche und Franzosen waren. Sie wären nicht von großem Nutzen für Europa gewesen, wenn sie staatenlos gewesen wären und wenn sie in einer Art Esperanto gedacht hätten, oder Volapük geschrieben hätten.“
Der Versuch, einen neuen Menschen zu schaffen, bedeutet, seine Wurzeln abzuschneiden
Unsere grundlegende Identität ist die nationale Identität. Ich bin ein Europäer, weil ich ein Pole, ein Franzose, ein Deutscher bin, nicht weil ich mein Polentum oder Deutschsein leugne. Der Versuch, im heutigen Europa, diese Vielfalt zu beseitigen, einen neuen Menschen zu schaffen, der seiner nationalen Identität entwurzelt ist, bedeutet, die Wurzeln abzuschneiden und den Ast abzusägen, auf dem wir sitzen.
Seien Sie gewarnt: Wir können leicht umfallen – starke Kulturen und harte Diktaturen aus anderen Ecken der Welt warten darauf. Sie würden sich sicher freuen, wenn Europa in die Bedeutungslosigkeit fällt. Würden wir wollen, daß alle Europäer ihre Sprachen vergessen und nur noch in Volapük sprechen? Ich würde das nicht wollen.
Manche Leute versuchen, Europas Beitrag zur Entwicklung der Welt zu negieren, weil sie nur die dunklen Seiten der Geschichte sehen. Und in der Tat, Länder, die für Ausbeutung und Kolonialismus, Imperialismus und schreckliche Verbrechen verantwortlich sind – wie den deutschen Nazismus und den russischen Kommunismus, wie die Verbrechen in den Kolonien – sollten für ihre eigene Vergangenheit Wiedergutmachung leisten. Dies ist Teil unserer europäischen DNS – das Streben nach Wahrheit und Gerechtigkeit. Aber das historische Europa ist nicht nur eine Quelle der Schande für uns. Die erstaunliche wissenschaftliche Entwicklung und der Wohlstand von heute sind, wenn man so will, die Nachkommen Europas.
Gegen politische „McDonaldisierung“ und gegen ein Europa politischer Ultimaten
Der Weg in die Zukunft für Europa ist auch keine „politische McDonaldisierung“. Europa muß sich auf seine eigene Vielfalt stützen. Der Versuch, Europa künstlich zu vereinheitlichen im Namen der Abschaffung nationaler und politischer Unterschiede, führt in der Praxis zu Chaos und Konflikten unter den Europäern.
Zusammenarbeit in Verbindung mit Wettbewerb ist der beste Weg für Europa, in der globalen Welt erfolgreich zu sein. Millionen von Menschen aus der ganzen Welt besuchen jedes Jahr Paris, Rom, Köln, Madrid, Krakau, London oder Prag. Der Reichtum dieser schönen Städte und ihre Anziehungskraft beruhen auf der Tatsache, daß jede von ihnen ihre eigene einzigartige Identität hat.
Wir wollen kein Europa, das uns ein Ultimatum stellt: entweder ihr gebt freiwillig eure Nationalität auf, oder wir üben alle Arten von politischen und wirtschaftlichen Druck auf euch aus, dies zu tun.
Verabschieden wir uns von der Vision eines zentralisierten Europas
Polen hat in den vergangenen Monaten Millionen von Flüchtlingen aufgenommen. Ukrainer haben in unseren Häusern Unterschlupf gefunden. Zu unserem Verständnis europäischer Werten gehört sicherlich auch die Unterstützung für einen Nachbarn in in Not. Wir haben jedoch nur minimale Hilfe erhalten. Und in diesem Zusammenhang sehen wir eine unterschiedliche Behandlung von Ländern, die sich in der gleichen Situation befinden, und das ist die Definition von Diskriminierung.
Polen erfährt diese Diskriminierung auch aufgrund eines völlig mangelnden Verständnisses für die Reformen, die ein Land machen mußte, das den Kommunismus überwunden hat. Aufgrund der Einmischung der europäischen Institutionen in interne Streitigkeiten eines Mitgliedstaates unter dem Slogan der Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit“. Ich möchte hier ganz klar sagen: In Polen haben wir das gleiche Verständnis des Begriffs „Rechtsstaatlichkeit“ wie in Deutschland.
Und es gibt nur wenige Dinge, bei denen ich mir so sicher bin wie bei der Tatsache, daß mein politisches Lager den wirklichen Rechtsstaat in viel stärkerem Maße verteidigt, als dies in den ersten 25 Jahren nach 1989 der Fall war. Es kämpft gegen die Oligarchie, gegen die Vorherrschaft der geschlossenen Unternehmen, gegen Armut und gegen Korruption. Sie schützt vor diesen Pathologien. Aber da dies nicht das Hauptthema meiner Ausführungen ist, möchte ich hier aufhören.
In einem tieferen Sinn geht es heute um den Streit zwischen der Souveränität der Staaten und der Souveränität der Institutionen. Zwischen der demokratischen Macht des Volkes an der Basis und der Machtausübung von oben nach unten durch eine kleine Elite. In den zweitausend Jahren des Bestehens Europas ist es niemandem gelungen, unseren gesamten Kontinent politisch unterzuordnen. Es wird auch heute nicht funktionieren.
Die Vision eines zentralisierten Europas wird an genau demselben Ort enden, wie das vor 30 Jahren verkündete Konzept vom Ende der Geschichte. Je eher wir uns von dieser Vision verabschieden und die Demokratie als die Quelle legitimer Macht in Europa akzeptieren, desto besser wird unsere Zukunft sein.
EU-Erweiterung ist wichtig – mit stärkerer Föderalisierung
Übrigens: Es gibt kein Ende der Geschichte. Die Geschichte beschleunigt sich und bringt Herausforderungen von unbegrenztem Ausmaß! Leider lebt ein großer Teil der heutigen EU-Elite in einer alternativen Realität. Wenn die EU-Eliten hartnäckig auf der Vision eines zentralisierten Superstaates beharren, werden sie auf den Widerstand weiterer europäischer Nationen treffen. Je mehr sie darauf beharren, desto heftiger wird diese Rebellion ausfallen. Und ich will keine Polarisierung, keine Spaltung und kein Chaos. Ich will ein starkes und wettbewerbsfähiges Europa.
Viertens: Wie kann Europa die Pole-Position im globalen Führungswettbewerb einnehmen?
In erster Linie muß sich die Politik der Union ändern. Nicht in Richtung Zentralisierung und die Übertragung von Macht auf einige wenige Schlüsselinstitutionen und auf die stärksten Länder. Sondern in Richtung einer Stärkung des Machtgleichgewichts zwischen den Völkern in Nord-, West-, Mittel-, Ost- und Südeuropa. Und zur Vollendung der EU-Integration mit dem westlichen Balkan, der Ukraine und Moldawien – im Einklang mit den geografischen Grenzen Europas.
Die Frage muß gestellt werden: Wie ernst nehmen wir den Aufbau einer starken und einflußreichen Europäischen Union? Der Pro-Europäismus drückt sich heute in unserer Einstellung zur Erweiterung, nicht in der Konzentration auf uns selbst und die Zentralisierung der EU aus. Seltsamerweise sind die Länder, die sich gerne als pro-europäisch darstellen und eine Turbo-Integration vorschlagen, gleichzeitig am skeptischsten gegenüber der Erweiterungspolitik und spielen ein politisches Pokerspiel.
Wir sollten nicht über die Werte sprechen, die die EU vereinen, während wir Europa unterteilen in diejenigen, die verdienen, dabei zu sein und die Ausgeschlossenen. Ein größerer gemeinsamer Markt und die Vielfalt seiner wirtschaftlichen Vorteile würden uns zu einem starken globalen Akteur machen. Ich höre oft, daß die EU Reformen braucht, wenn sie sich erweitern soll. Dies ist sehr oft ein getarnter Vorschlag zur Föderalisierung, de facto – ein Vorschlag zur Zentralisierung.Das liegt daran, daß der Slogan der „Föderalisierung“ eine von oben verordnete Konzentration der Entscheidungsfindung ist.
Nach Ansicht der Autoren dieser Zentralisierung namens „Föderalisierung“, muß der Entscheidungsprozeß geändert werden durch den Übergang von der Einstimmigkeit zur qualifizierten Mehrheit in einer Reihe von neuen Bereichen. Das Argument für diese Lösung ist, daß Einstimmigkeit bei mehr als 30 Ländern schwierig zu erreichen ist. Es stimmt, daß es schwieriger ist, eine einheitliche Meinung innerhalb einer größeren Gruppe von Staaten zu erreichen. Die Frage ist jedoch, ob dies dazu führen sollte, daß Entscheidungen von der Mehrheit gegen die Interessen der Minderheit in anderen Bereichen durchgesetzt werden?
Ein besseres Gleichgewicht muß her: Mehr Kompetenzen zurück zu den Nationalstaaten!
Ich habe einen anderen Vorschlag: Wir sollten davon absehen, uns in Fragen einzumischen, in denen die nationalen Interessen geteilt bleiben. Lassen Sie uns einen Schritt zurückgehen, um zwei Schritte vorwärts zu machen. Konzentrieren wir uns auf die Bereiche, für die der Vertrag von Rom der Union Zuständigkeiten zugewiesen hat, und lassen wir den Rest vom Prinzip der Subsidiarität geleitet sein.
Seit mehreren Jahrzehnten beobachten wir den Prozeß des „spill over“ von EU-Zuständigkeiten in neue Bereiche. Er wird in vielen Mitgliedstaaten kritisch bewertet. Dennoch hat er sich in letzter Zeit beschleunigt. Die Frage, inwieweit die Staaten die „Herren des Vertrags“ bleiben, wie es das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe einmal genannt hat, ist heute noch aktueller denn je.
Wenn die EU also Änderungen an ihrem Entscheidungsprozeß vornehmen will, die demokratisch legitimiert sind und gegenseitiges Vertrauen ermöglichen, müssen die Mitgliedstaaten wieder die volle Autorität über die Verträge zurückgewinnen. Sie können die Entscheidungsbefugnis nicht an die „Zentrale in Brüssel“ und „Koalitionen der Macht“ abgeben. Mit anderen Worten: Wir müssen die Bereiche überprüfen, die unter die Zuständigkeit von Brüssel fallen, und lassen Sie uns, geleitet vom Prinzip der Subsidiarität, ein besseres Gleichgewicht herstellen. Mehr Demokratie, mehr Konsens, mehr Ausgewogenheit zwischen Staaten und EU-Institutionen. Wir sollten die Zahl der Bereiche, die in die Zuständigkeit der EU fallen, reduzieren, dann wird die Union, selbst mit 35 Ländern, überschaubarer und demokratischer.
Mehr Zentralisierung bedeutet mehr von denselben Fehlern. Es ist ein Versäumnis, nicht auf die Stimmen der Länder zu hören, die in Bezug auf Putin Recht hatten. Es ist eine Machtübergabe an Leute wie (Ex-Bundeskanzler – Anm.) Gerhard Schröder, die Europa von Rußland abhängig gemacht und den ganzen Kontinent in existenzielle Gefahr gebracht haben. Ein Beispiel: Noch vor wenigen Monaten, im Juni 2021, gab es die Idee eines Treffens des Europäischen Rates mit Wladimir Putin. Als ob es bis dahin keine aggressiven Handlungen Rußlands stattgefunden hätten. Wo wären wir ohne die Opposition von Polen, Finnland und den baltischen Staaten?
Die polnische Außenpolitik wird – in diesem Zusammenhang – in demokratischen Wahlen von polnischen Bürgern entschieden – Menschen, für die ein aggressiver Nachbar ein echtes Problem ist. Das sind keine Menschen, die Tausende von Kilometern entfernt leben und Rußland nur durch das Prisma der Werke von Puschkin, Tolstoj oder Tschaikowsky sehen. Heute reicht es nicht mehr aus, über den Wiederaufbau Europas zu sprechen. Wir müssen über eine neue Vision für Europa sprechen. Damit Frieden und Sicherheit zu dauerhaften Grundlagen der Entwicklung für kommende Jahrzehnte werden.
Europa muß seine eigene Verteidigungsfähigkeit ausbauen
Wenn die vergangenen Monate in irgendeiner Weise als erfolgreich angesehen werden können, so ist dies sicherlich auf die Zusammenarbeit im Bereich der Sicherheit zurückzuführen. Die transatlantische Zusammenarbeit und insbesondere die Nato haben sich als das effizienteste Verteidigungsbündnis aller Zeiten erwiesen. Ohne die Beteiligung der USA und möglicherweise Polens gäbe es die Ukraine heute nicht mehr. Die Nato, die durch den baldigen Beitritt Finnlands und Schwedens erweitert wird, ist der Schlüssel für die Sicherheit Europas. Sie muß gestärkt und ausgebaut werden.
Zugleich müssen wir unsere eigenen Verteidigungskapazitäten aufbauen. Etwas, das Polen derzeit tut. Wir bauen eine moderne Armee auf, nicht nur zur Verteidigung, sondern auch, um unseren Verbündeten zu helfen. Wir geben bis zu vier Prozent des BIP für die Verteidigung aus, was nur möglich ist, weil die Sanierung der öffentlichen Finanzen von den klaffenden Löchern, die von unseren Vorgängern hinterlassen wurden, erfolgreich war. Und wir schlagen vor, daß die Verteidigungsausgaben nicht unter das im Maastrichter Vertrag festgelegte Kriterium der drei-Prozent-Obergrenze fallen.
Europa hat sich selbst entwaffnet und starrt auf die russische Aggression wie ein Kaninchen im Scheinwerferlicht. Heute mangelt es an Munition und Grundwaffen, um auf die russische Invasion zu reagieren. Ganz zu schweigen von anderen Bedrohungen, die anderswo auftreten können. Mein Wunsch für die Länder Europas ist es, militärisch so stark zu sein, dass sie im Falle eines Angriffs keine Hilfe von außen brauchen, sondern daß sie militärische Unterstützung für andere leisten können. Das ist heute nicht der Fall. Ohne das amerikanische Engagement würde die Ukraine nicht mehr existieren. Und der Kreml wäre schon zum nächsten Opfer weitergezogen.
Während der „Entspannung“ in den 1970er Jahren wurden viele Fehler gemacht. Diese Ära endete mit der sowjetischen Invasion in Afghanistan. Der Westen reagierte angemessen. Diesmal war die russische Aggression der vergangenen 20 Jahre nicht mehr so besorgniserregend. Die Ernüchterung kam spät – am 24. Februar 2022.
4.1 Was ist noch nötig, um die Position Europas zu stärken?
Wir alle erinnern uns an Clintons Wahlkampfslogan: it’s the economy, stupid! Damals glaubte fast jeder, daß Geld ein Allheilmittel sei. Daß selbst in Ländern wie Rußland und China Geld die Mittelschicht vergrößern und das öffentliche Leben demokratisieren würde. Die Dinge haben sich anders entwickelt.
Europas Stärke ist der Mittelstand
Heute wissen wir, daß die Wirtschaft Hand in Hand gehen muß mit sozialen Wünschen und Sicherheitsbedürfnissen. Viele der Probleme des modernen Europas rühren von der Frustration der jungen Menschen, deren Perspektiven oft schlechter sind als die ihrer Eltern. Die Mittelschicht erodiert überall in Europa. Eine Welt, in der ein Prozent der Bevölkerung mehr Reichtum anhäuft als die restlichen 99 Prozent, ist empörend. Und das ist heute der Fall. Steuerparadiese, die man besser als Steuerhöllen bezeichnen sollte, berauben die Mittelschicht und die Staatshaushalte von Deutschland, Frankreich, Spanien und Polen.
Die Stärke Europas beruht in erster Linie auf dem stärksten Fundament, nämlich seinem robusten Mittelstand. Der Glaube, daß Wohlstand und Wachstum nicht nur von einer Gruppe von Reichen geteilt werden können, sondern von der Gesellschaft als Ganzes, war die treibende Kraft hinter der Entwicklung des Westens seit den fünfziger Jahren. Leider schwindet diese Überzeugung und die Ungleichheit nimmt zu. Dies ist sehr gefährlich, weil es einerseits radikale Bewegungen stärkt, die die Zerstörung der gegenwärtigen wirtschaftlichen und politischen Struktur fordern. Und zum anderen entmutigt es Arbeit und Entwicklung.
Gut funktionierende Familien sind die Grundlage für ein gesundes, glückliches Leben
Wir müssen diesen Prozeß umkehren. Denn es besteht die Gefahr, daß wir das Rennen gegen unsere Konkurrenten verlieren – harte, abgebrühte und kompromißlose Zivilisationen, die soziale und wirtschaftliche Beziehungen anders gestalten.
Unsere Aufgabe als politisch Verantwortliche ist es, Bedingungen zu schaffen, unter denen jeder ein ehrliches Leben führen kann. Der europäische Arbeitsmarkt sollte anständige Löhne bieten, jungen Menschen den Einstieg ins Berufsleben erleichtern und ihnen ein Gefühl der Stabilität vermitteln. Wir müssen auch die bestmöglichen Bedingungen für die Gründung von Familien schaffen. Dann wird Europa eine gute Zukunft haben. Gut funktionierende Familien sind die Grundlage für ein gesundes, glückliches und stabiles Leben.
Wir müssen auch verhindern, dass Europa abhängig wird von anderen. Die Zusammenarbeit mit China ist eine große Herausforderung. Es ist ein riesiges Land mit großen Ambitionen. Als Europa müssen wir für China ein mindestens gleichwertiger Partner sein. Die Abhängigkeit von China ist ein Weg ins Nirgendwo. Und das ist etwas, das Europa dringend vermeiden muß. Neben einem ukrainischen Sieg im Krieg ist dies eine weitere große Herausforderung für die kommenden Jahre.
Noch ist Europa nicht verloren – es ist stärker als Rußland
Es gibt keine Fehler, die nicht behoben werden können. Zumindest zum Teil. Wenn ich höre, daß unsere Regierung in Bezug auf Rußland und die Ukraine richtig lag, bin ich zufrieden. Aber selbst die größte Genugtuung würde ich gerne eintauschen gegen den europäischen Kampfeswillen. Für einen noch stärkeren politischen Willen, die Unterstützung für die Ukraine. Und für den Willen, 400 Milliarden Euro an russischen Vermögenswerten zu konfiszieren. Es reicht nicht aus, sie einzufrieren. Rußland muß sich verantworten für seine Verbrechen und die materielle Zerstörung, die es verursacht hat. Die brutalen Aggressoren müssen wissen, daß ihr Land früher oder später für die durch Gewalt verursachten Verluste zahlen wird.
Heute appelliere ich erneut an alle führenden Politiker Europas: Es ist Zeit für die vollständige und dauerhafte Konfiszierung des russischen Vermögens. Um die Ukraine wiederaufzubauen und die Energiekosten für die europäischen Bürger zu senken.
Europa ist viel stärker als Rußland. Aber zusätzlich zu unserem Potenzial müssen wir auch den Willen haben, es zu nutzen. Wenn wir Rußland diesen Krieg gewinnen lassen, riskieren wir mehr als nur den Verlust der Ukraine. Wir riskieren die Marginalisierung unseres gesamten Kontinents. Die grundlegende Schlußfolgerung ist einfach. In der Welt zählen nur starke, leistungsfähige, selbstbewußte Länder. Putin hat die Ukraine angegriffen weil er die Europäer für am Ende ihrer Kräfte hielt, schwach und untätig. Ein Jahr später sehen wir, daß er sich geirrt hat. Zumindest zum Teil.
Europa ist noch nicht verloren. Solange wir noch leben. Aber es ist noch nicht siegreich.
„Deutschland ist Hamlet“ – Die Deutschen zögern zu sehr!
Meine Damen und Herren, ich habe eingangs erwähnt, daß auch viele Polen an der Universität Heidelberg studiert haben – Ärzte, Juristen, Philosophen. Einer von ihnen war unser großer Dichter Adam Asnyk. Im Frühjahr 1871, genau zu der Zeit, als das vereinigte Deutschland geboren wurde, träumte auch Asnyk von der Wiederbelebung eines unabhängigen Polen. Er verstand, daß große Aufgaben nur erreicht werden können durch geduldige, systematische Arbeit, durch die gemeinsame Anstrengung der gesamten Gemeinschaft. Er schrieb:
„Habt immer Verachtung für triumphierende Prahlerei,
applaudiert nicht dem gewalttätigen Unterdrücker
Aber verehre nicht deine Niederlagen im Überfluß,
Und rühme dich nicht, immer kleiner zu sein.“
Europa muß seine Stärke und seinen Wert unter Beweis stellen. Dies ist unser „Sein oder nicht sein“-Moment. Aber im Gegensatz zu Shakespeares Hamlet dürfen wir nicht zögern. Im Jahr 1844, als Deutschland noch wie die Ruine des Heidelberger Schlosses – beeindruckend, aber unvollendet – war, warnte der deutsche Dichter Ferdinand Freiligrath: „Deutschland ist Hamlet!“ Die Deutschen zögern zu sehr, anstatt klar auf der Seite des Guten zu stehen.
Johannes Paul II. war einer der stärksten Befürworter der europäischen Einigung. Er spielte eine Schlüsselrolle bei der Befreiung der Völker Europas. Und zusammen mit seinem großen deutschen Nachfolger, Benedikt XVI., war dieses einzigartige polnisch-deutsche Duo eine wichtige Stimme für die Zukunft Europas, seiner Richtung, seiner Kultur und Zivilisation.
Gestatten Sie mir abschließend, die vier Hauptthemen zusammenzufassen, die die im Mittelpunkt meiner Rede standen. Erstens: Wir können unsere Zukunft nicht aufbauen ohne unsere Vergangenheit. Die Geschichte zeigt, daß eine Politik, die die Souveränität und den Willen des Volkes nicht respektiert, sich früher oder später in Utopie oder Diktatur auflöst. Europa hat eine gute Zukunft, wenn es die Vielfalt seiner Nationen respektiert.
Zweitens: Die Zukunft Europas wird durch den Freiheitskampf der Ukraine in unserem Namen geformt. Es ist unsere Pflicht, die Ukraine zu unterstützen. Der Kampfgeist der Ukrainer sollte eine Inspiration und Leitfaden für unser Handeln sein.
Europa muß kluge Allianzen eingehen, um siegreich zu sein
Drittens: Eine demokratische Gemeinschaft der Nationen, die auf einem antiken griechischen, römischen und christlichen Erbe ruht, die Frieden, Freiheit und Solidarität fördert, ist das Fundament der europäischen Werte. Diese Werte bildeten die Grundlage der europäischen Integration, und sie können auch weiterhin die treibende Kraft des Kontinents sein. Was diese Kräfte zu untergraben droht, ist die Zentralisierung. Die Herrschaft des Stärkeren und die willkürliche Übertragung von Europas Zukunft an eine herzlose Bürokratie, die versucht, „Werte“ neu zu starten. Ein solcher „Neustart“, das heißt – bürokratische Zentralisierung unter dem Deckmantel der „Föderalisierung“, ist der Keim für große zukünftige Konflikte und soziale Rebellionen.
Viertens: Wenn Europa das Rennen um die globale Führung gewinnen will, muß es sich wandeln. Es muß bereit sein, neue Länder aufzunehmen, aber auch, angesichts einer größeren Gemeinschaft einige seiner Kompetenzen einzuschränken. Angesichts der Bedrohungen von außen muß es seine Verteidigungsfähigkeiten stärken. Angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen muß es eine egalitäre und ordoliberale Form des Wohlstands aufbauen und Steuerhöllen bekämpfen, die sich als Steuerparadiese tarnen.Europa muß kluge Allianzen eingehen, aber es muß auch die Unabhängigkeit fördern und sich nicht zum Opfer von Energie- oder Wirtschaftserpressung machen lassen.
Europa war einst das Zentrum der Welt und wurde auf allen Kontinenten geachtet. Ist es uns noch wichtig, ob Europa und unsere Zivilisation überleben? Und nicht nur, ob sie überleben, sondern in welcher Form? Haben wir den Drang, eine Führungsrolle zu übernehmen? Oder haben wir uns vielleicht schon damit abgefunden, daß wir uns hinten anzustellen? Haben wir den Mut, Europa wieder groß zu machen? Um Europa zum Sieger zu machen?
Ich glaube ja.
Europa hat ein großes Potenzial. Es ergibt sich aus seiner Geschichte und seinem Erbe, es setzt sich heute in seinen unzähligen Qualitäten und Vorteilen fort. Was Europa jedoch braucht, sind Entschlossenheit und Mut.
Und ich bin zutiefst davon überzeugt, daß, wenn wir für unsere Heimatländer und den Kontinent als Ganzes arbeiten, Europa siegen wird. Europa wird siegreich sein!
Ich danke Ihnen vielmals.