Rußland ist trotz einiger Landgewinne im Osten und an der Schwarzmeerküste mit seinem Blitzkrieg gegen die Ukraine gescheitert und gruppiert derzeit seine Truppen um. Interessiert beobachten Bundeswehrsoldaten das Agieren der Angreifer, um die Einsatzgrundsätze der russischen Kräfte einschätzen zu können. Die Analyse fällt vernichtend aus.
Der Kommandeur der Panzerlehrbrigade 9 und Leiter des Lagezentrums Ukraine der Bundeswehr, Brigadegeneral Christian Freuding, bescheinigt den Russen im Interviewformat „Nachgefragt“ auf der Bundeswehr-Internetseite schlechte Kommunikation, ungenügende Operationsplanung und Abstimmung innerhalb der Landstreitkräfte, aber auch zwischen Land- und Luftstreikräften sowie eine unzureichende logistische Versorgung der Truppe.
Allerdings hätte zumindest mit letzterem auch die Bundeswehr gravierende Probleme. Man habe zu wenig logistisches Personal und Material, um im Verteidigungsfall die Truppe in den Einsatzgebieten aus den Depots heraus schnell zu versorgen, räumt Generalleutnant Martin Schelleis, Inspekteur der Streitkräftebasis und Nationaler Territorialer Befehlshaber der Bundeswehr, auf der Bundeswehrplattform ein. Das betreffe Betriebsstoff, Ersatzteile und Verpflegung. Hier sei in den vergangenen Jahren viel zu viel eingespart worden.
Schlammperiode habe Russen überrascht
Damit umreißt Schelleis all die Probleme, die aktuell den Russen zu schaffen machen. Überdies haben diese nach Einschätzung von General Freuding ihre Kräfte überdehnt, sind zu schwach aufgestellt, um das in den weiträumigen Angriffsoperationen gewonnene Gebiet zu halten. Das würde auch die Einstellung der Angriffe auf die ukrainische Hauptstadt Kiew und die Umgruppierungen erklären, die auf eine neue komplexe Operation in der Ostukraine hindeuten, die aber für die Ukraine dann nicht überraschend kommt.
Die Ukrainer haben um Kiew einen erfolgreichen Abwehrkampf gegen einen überlegenen Gegner geführt, sagt Brigadegeneral a.D. Erich Vad voller Anerkennung. Er war 2006 bis 2013 militärpolitischer Berater der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Das habe bei Putin offenbar ein Umdenken ausgelöst. Statt eines schnellen Regimewechsels in der Ukraine setze er nun auf Militäroperationen im Osten.
Daß ausgerechnet die Russen dabei die im Frühjahr einsetzende Schlammperiode übersehen haben, die weiträumige Operationen schwierig mache, erstaunt nicht nur General Freuding. Von aus „heutiger Sicht nicht erklärbaren Fehlern“ gerade bei der Logistik spricht auch Schelleis – selbst wenn man den russischen Strategen anrechne, daß sie nicht mit einer derart effektiven und zähen Verteidigung der „auf dem Papier unterlegenen“ Ukrainer gerechnet haben.
Russische Armee sei „auf den Knien“
Daß auf dem Schlachtfeld vor allem Militärtechnik aus den 1980ern auftaucht und dazu gepanzerte Fahrzeuge einzeln und ohne Schutz durch Infanterie agieren, überrascht nicht nur die Bundeswehranalysten, sondern auch die Amerikaner. Die Russen seien offenbar viel schlechter ausgerüstet, als offiziell behauptet, und überdies logistisch und hierarchisch mangelhaft organisiert, staunt der frühere US-General Frederick Benjamin „Ben“ Hodges: „Wir haben sie offenkundig überschätzt.“
Während allerdings Ex-General Vad gegenwärtig „nicht die schlechtesten Voraussetzungen für Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen“ sieht, will Hodges, einst Oberkommandierender des amerikanischen Heeres in Europa und jetzt Mitglied der Washingtoner Denkfabrik „Center for European Policy Analysis“ (CEPA) lieber kämpfen. Die russische Armee sei „auf den Knien“ und dabei, sich neu zu gruppieren – und deshalb sei sie sehr verletzlich. Die Nato-Staaten müßten schnellstens, wie von der Ukraine permanent gefordert, schwere Waffen wie Panzer, Kampfflugzeuge, weitreichende Artillerie und insbesondere schiffsbrechende Raketen liefern, um den russischen Beschuß vom Schwarzen Meer aus zu unterbinden, so Hodges in einem Vortrag in den Räumen der Evangelischen Akademie am Frankfurter Römerberg.
Genau das wäre aber aus Sicht von Vad – abgesehen davon, daß die ukrainischen Soldaten für komplexe Waffensysteme wie den Kampfpanzer Leopard oder den Schützenpanzer Marder gar nicht ausgebildet sind und Deutschland auch keine überzähligen besitzt – potenziell der Weg in den Dritten Weltkrieg: „Wenn wir diesen nicht wollen, müssen wir früher oder später aus dieser militärischen Eskalationslogik raus und Verhandlungen aufnehmen.“
Rußland habe zu wenige Männer vor Ort
„Wir machen im Moment sehr viel Kriegsrhetorik – aus guter gesinnungsethischer Absicht“, warnte Vad gegenüber der dpa: „Aber der Weg in die Hölle ist bekanntlich immer mit guten Vorsätzen gepflastert. Wir müssen den laufenden Krieg zwischen Rußland und der Ukraine vom Ende her denken.“ Ähnlich denkt man im Lagezentrum Ukraine.
„Wir müssen lernen, vom Gegner her zu denken“, sagte General Freuding. Das falle schon deswegen schwer, weil die russische Armee offensichtlich andere Einsatzgrundsätze habe. An den deutschen Offiziershochschulen werde gelehrt, daß nur ein schneller, überraschender, mit allen Teilstreitkräften sorgsam abgestimmter und von der eigenen Initiative getragener Angriff Erfolg verspreche. Dazu gehöre aber ein Kräfteverhältnis von mindestens eins zu drei zugunsten des Angreifers, so Freuding.
Sei der Verteidiger bereit, Raum aufzugeben, um gegnerische Streitkräfte langfristig abzuwehren, sollte deren Überlegenheit das Vier- bis Sechsfache, im Orts- und Häuserkampf gar das Acht- bis Zehnfache betragen. Die von Rußland in der Ukraine eingesetzten Kräfte sind nach Einschätzung der Bundeswehr zu schwach.
Für Putin ist ein Rückzug nicht verhandelbar
Auch beim Angriff auf Kiew habe dieses Kräfteverhältnis nicht gestimmt, so der Leiter des Ukraine-Lagezentrums. Überdies würden den Russen Soldaten fehlen, um den eroberten Raum zu sichern. Gravierende Mängel bescheinigt der General den Russen auch bei der Ausrüstung, Ausbildungsstand, Geländekenntnis und Moral. Eine neue Erfahrung auch für die Bundeswehrstrategen ist die Organisation von militärischem Widerstand durch soziale Medien, betonte General Freuding. Das sei ein „spannender Aspekt“.
Während die Russen auf einem Sieg über die Ukraine bis zum symbolisch aufgeladenen 9. Mai, an dem Moskau traditionell den Sieg über Nazideutschland und dessen europäischen Verbündeten feiert, setzten, glaubt Hodges an die russische Niederlage. Ziel müsse der Rückzug der russischen Truppen und die Rückkehr zu den Verhältnissen vor dem Angriff vom 24. Februar sein. Langfristig sollte die Rückgabe der besetzten Gebiete im Donbass und der Krim erreicht werden.
Allerdings ist all das für den russischen Präsidenten Wladimir Putin nicht verhandelbar.