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Ukraine-Krieg: Der Sinn der Schlacht um Mariupol

Ukraine-Krieg: Der Sinn der Schlacht um Mariupol

Ukraine-Krieg: Der Sinn der Schlacht um Mariupol

Mariupol in der Ukraine: Zerstörter russischer Panzer / picture alliance / ZUMAPRESS.com | Maximilian Clarke
Ukraine-Krieg
 

Der Sinn der Schlacht um Mariupol

Ist die Lage der Ukraine nach 30 Tagen Krieg so aussichtslos, daß sie kapitulieren sollte? Der Historiker Stefan Scheil erinnert daran, daß viele europäische Nationen sich in ähnlicher Lage behauptet haben – und damit ihre dauerhafte Gründung erlebten. Ein Kommentar.
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Die Frage ist mit Sicherheit so alt wie die Kriegsgeschichte selbst: Warum ausgerechnet hier? Wieso muß nun gerade diese Brücke, diese Festung, dieser Hügel oder diese Stadt gehalten oder angegriffen werden? Unzählige haben sich diese Frage gestellt und zum eigenen Besten mehr oder weniger befriedigend beantwortet. Fanden sie keine solche Antwort, haben sie kapituliert oder sind weggelaufen. Es steht der Mensch nun einmal ungern für Anliegen ein, die ihm völlig sinnlos erscheinen, zumal mit seinem Leben.

Thorsten Hinz hat diese Frage neulich für die ukrainische Stadt Mariupol aufgeworfen und negativ beantwortet. Widerstand in Mariupol sei militärisch nicht sinnvoll, die Übergabe der Stadt für die Verteidiger daher das beste. Was an Widerstand geleistet worden sei, das sei für die Symbolik des ukrainischen Selbstbehauptungswillens genug. Jetzt sollten humanitäre Aspekte die Entscheidung leiten, so lautet sein Argument, das von anderen in erweiterter Form auch auf die ganze Ukraine ausgedehnt wird.

Daß Widerstand zwecklos sei, haben wir verinnerlicht

Man könnte das natürlich mit dem bundesrepublikanischen Hintergrund dieser Denkweise abtun. Daß Widerstand zwecklos sei und immer gewesen sei, das bekommen die Deutschen ja schließlich seit 1945 umfassend eingetrichtert. Kapitulieren, unterschreiben was vorgelegt wird, bekennen was verlangt wird, ansonsten den Mund halten und weiterleben.

Hat das nicht gut funktioniert, sagt sich der Bundesrepublikaner? Zumal, da ihn die allgegenwärtige Berichterstattung über den Krieg selbst und dessen politische Hintergründe nur wenig informiert. Der Fokus wird dort auf die humanitäre Flüchtlings-Frage gelegt, so daß es denn auch nicht auffällt, wenn inzwischen offenbar Zehntausende Männer tot auf dem Schlachtfeld liegen und die Außenministerin treuherzig beklagt, es seien „wie in jedem Krieg vor allem Frauen“ betroffen.

Keine nationale Selbstbestimmung ohne Kampf

Nun erfordert eine Beurteilung der Kapitulationsfrage eine Antwort darauf, welcher Krieg hier eigentlich geführt wird. Historisch gesehen ist es in Europa tatsächlich lange Zeit keine Schande gewesen, in militärisch ungünstiger Lage den Kampf aufzugeben, zumal in den Zeiten des halbwegs eingehegten Krieges zwischen dem Westfälischen Frieden von 1648 und der Französischen Revolution von 1789. Man verhandelte dann Bedingungen oder zog einfach ab, wenn das möglich war.

Ein berühmtes letztes Beispiel dafür ist die „Kanonade von Valmy“, bei der 1792 die Truppen des europäischen Adels auf die Streitkräfte der Französischen Revolution trafen. Die Lage schien für die besser positionierten Franzosen militärisch günstiger zu sein. Also zog der gegenrevolutionäre europäische Adel unter Führung des Herzogs von Braunschweig nach einem eher symbolischen Schußwechsel ab, wollte er doch unter seinen teuren Streitkräften keine weiteren Opfer riskieren. Man werde sich zu gegebener Zeit an besserer Stelle wiedertreffen, so die Überlegung.

Wenn in diesem Zusammenhang eben vom letzten Beispiel die Rede war, so deshalb, weil die nach der Französischen Revolution in Europa überall aufkommenden Kämpfe um die nationale Selbstbestimmung jene alten europäischen Traditionen in den Hintergrund treten ließen. Man ergab sich immer weniger, Verhandlungen wurden die Ausnahme, irregulärer Widerstand immer häufiger, noch so brutaler Gegenterror der Besatzungsmächte zunehmend zweckloser. Das lernte dann auch das revolutionäre Frankreich bald kennen.

Auch der Aufstand der Griechen gegen die Osmanen schien aussichtlos

Dieser Prozeß der Nationswerdung hat seit dem 19. Jahrhundert jenes Europa der Nationen entstehen lassen, das wir heute sehen. Ein erstes großes Opfer dieser Entwicklung wurde das türkisch-osmanische Reich. Zweihundert Jahre ist es her, da begeisterte sich ganz Europa am Aufstand der Griechen gegen die türkische Herrschaft ab 1821. Aussichtslos und heldenhaft, so schien er zu sein und führte mit wohlwollender Begleitung mancher Großmächte doch schließlich zur Unabhängigkeit. Der 25. März ist als Datum des Aufstandsbeginns deshalb Nationalfeiertag.

Den Griechen folgten die Serben, die Albaner, die Rumänen und Bulgaren und mit dem Ende der großen Monarchien in Wien und St. Petersburg 1917/18 noch eine ganze lange Reihe anderer Völker in Nord- und Osteuropa und im Kaukasus. Sie brachten es sowohl durch eigene Anstrengung und meistens auch mit Billigung und Unterstützung anderer Mächte zu einem Staat. Sie müssen hier nicht aufgezählt werden. Zu ihnen gehörte aber schon damals erstmals auch die Ukraine.

An den aussichtslosen Orten entsteht die Nation

Deren Legitimität als Staat und Nation wird von russischer Seite und höchstpersönlich vom russischen Präsidenten immer noch grundsätzlich bestritten. Dies geschieht seit Jahren mit zunehmender Wucht und den sattsam bekannten Übergriffen auf Gebiete, die von Rußland in Verträgen als ukrainisch anerkannt wurden, auf denen die Tinte noch kaum trocken ist.

Dieses offenbar recht persönliche Projekt Wladimir Putins ist ein Hintergrund des russischen Angriffs auf Städte wie Kiew oder eben Mariupol. Ob die staatstragenden russischen Superreichen, die „Oligarchen“, in dieser Frage nicht flexibler sind und lieber weiter ihre Geschäfte machen und ihr Vermögen genießen würden, als Angriffskrieg zu führen, kann von außen niemand sicher sagen. Die Entscheider in Washington und Brüssel scheinen es zu vermuten. Sie überziehen diesen Personenkreis deshalb gezielt mit persönlichen Sanktionen.

Nach aller historischen Erfahrung aber wird dieser russische Krieg der ukrainischen Nationsbildung noch einen weiteren Schub geben. Dies wird auch deshalb der Fall sein, weil an scheinbar aussichtslosen Orten trotz angeblicher Aussichtslosigkeit eben dennoch weitergekämpft wird. Es war noch nie „süß“, für das Vaterland zu sterben. Manchmal ist es aber anscheinend unvermeidlich, daß irgendeine Stadt verteidigt wird.

 

Mariupol in der Ukraine: Zerstörter russischer Panzer / picture alliance / ZUMAPRESS.com | Maximilian Clarke
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