Als Waldemar von Antz an einem Spätsommertag die Tür zum deutsch-russischen Kulturzentrum „Einheit“ in Chimki bei Moskau aufschließen will, trifft es ihn wie ein Schlag – die Behörden haben den Eingang zu dem Haus versiegelt. „Unser Mietvertrag wurde uns sozusagen über Nacht gekündigt. Die Gründe dafür hat man uns nicht erklärt. Dabei hat die Stadt uns vor Kurzem noch versichert, daß alles in Ordnung sei“, klagt er im Gespräch mit der JUNGEN FREIHEIT.
Das Kulturzentrum liegt in der Nähe des Moskwa-Wolga-Kanals, der die russischen 200.000 Seelen-Stadt streift. In der Nachbarschaft befindet sich ein kleiner Park. Am Ende der Straße steht ein sowjetisches Fliegerdenkmal. Nur wenige Meter weiter die Peter und Paul-Kirche.
Waldemar von Antz heißt mit bürgerlichem Namen eigentlich Wladimir Anzukow. Seine Familie hat das „von Antz“ schon vor Jahrzenten abgelegt. Dennoch ist Waldemar stolz auf seine deutschen Wurzeln. „Ich liebe deutsches Essen, besonders Suppe mit Knödeln oder warmen Apfelstrudel“, schwärmt er.
Auch für deutsche Musik kann er sich begeistern – vor allem für Rammstein. „Mein Lieblingsautor ist Erich Maria Remarque. Kürzlich habe ich ‘Arc de Triomphe’ von ihm gelesen. Das war ein großartiges Erlebnis.“
„In den Medien taucht deutsche Kultur nicht auf“
Aus Liebe zu seiner deutschen Herkunft hat Anzukow 2012 in Chimki ein deutsch-russisches Kulturzentrum gegründet. „Es gibt hier in der Stadt viele Menschen mit deutschen Wurzeln. So zwischen 200 und 1.000“, schätzt er. Doch von den Deutschrussen beschäftige sich kaum noch jemand mit seinem Erbe.
„In den russischen Medien taucht deutsche Kultur so gut wie gar nicht mehr auf. Und auch über das Leben der Rußlanddeutschen im Land wird eigentlich überhaupt nicht berichtet.“ Nur die wenigen verbliebenen deutschen Kulturzentren in Rußland – etwa in Altai, Omsk oder Saratow – würden sich noch einigermaßen öffentlichkeitswirksam mit der Verflechtung von russischer und deutscher Geschichte auseinandersetzen.
Dabei teilen Russen und Deutsche ein durchaus wechselvolles Schicksal miteinander. Am 28. August 1941 beispielsweise hatte die Staatsspitze der Sowjetunion den Erlaß „Über die Umsiedlung der Deutschen in den Wolgagebieten“ beschlossen. Über eine Millionen Menschen wurden daraufhin aus Vorderrußland nach Kasachstan und Sibirien verschleppt. Hunderttausende überlebten diese Umsiedelung nicht.
Jedes Jahr erinnert Anzukow deshalb mit Freunden und Mitstreitern an die Geschehnisse. „Seit 81 Jahren warten wir nun schon auf die Anerkennung dieses tragischen Fehlers gegenüber den Rußlanddeutschen – oder wenigstens auf Reue und Mitleid“, beklagt sich Anzukow.
Bisher habe sich noch niemand für die Deportationen entschuldigt. „Und das, obwohl wir dem Staat unter allen Regimen und zu allen Zeiten seines Bestehens sowohl im Russischen Reich als auch in der UdSSR und auch jetzt in der Russischen Föderation gedient und ihn mit aufgebaut haben“, mahnt er.
Wird der deutsch-russische Dialog torpediert?
Wer sich trotzdem für die Aussöhnung der beiden Nationen einsetzt, bleibt meist auf den Kosten sitzen. Für sein Kulturzentrum in Chimki hat Wladimir im Laufe der Jahre etwa zwei Millionen Rubel ausgegeben, meint er. Das entspricht in etwa einem Neuwagen – viel Geld für den Pensionär. Umso härter habe ihn die jähe Schließung seiner Einrichtung getroffen.
Offiziell wurde der Schritt mit Mietrückständen begründet. Doch Anzukow vermutet, daß das Kulturprojekt aus politischen Gründen verschwinden soll. „Ich versuche jetzt natürlich, alle Möglichkeiten auszuschöpfen. Aber die Behörden und Gerichte sind auf der Seite der Stadtverwaltung“, seufzt er.
Seit dem Krieg in der Ukraine habe sich die Situation der Rußlanddeutschen immer weiter verschlechtert, erläutert Anzukow weiter. „Überall werden Kulturzentren geschlossen, und die, die noch funktionieren, sind nur noch ein Tropfen auf den heißen Stein.“ Das Deutschlandbild vieler Russen habe sich der deutschen Hilfe für die Ukraine wegen stark verschlechtert. „Die Leute fragen mich, wieso Scholz dies und jenes tue. Ich antworte dann immer, daß Scholz der Bundeskanzler von Deutschland ist und ich nicht für seine Handlungen verantwortlich sein kann.“
Letzte Option: Ausreise
Offenbar trügt der Eindruck nicht. Aus dem Auswärtigen Amt ist zu hören, daß die Zahl der deutsch-russischen Kulturpartnerschaften seit Kriegsbeginn tatsächlich stark zurückgegangen ist. Die russische Botschaft in Berlin unterdessen zeigte sich der JUNGEN FREIHEIT gegenüber überrascht. „Leider ist uns dieser Vorfall nicht bekannt“, heißt es auf Nachfrage.
Anzukow sieht sich indes zu Unrecht wegen seiner deutschen Wurzeln angegriffen und betont, daß er voll und ganz zum Kampf gegen die „faschistischen Banderisten“ stehe, wie er die ukrainische Regierung nennt. Er ist sichtlich stolz auf die russischen Streitkräfte. Jedes Jahr am zweiten August, erzählt er, feiert er den Tag der Luftlandetruppen am Grabstein seines Vaters, der früher selbst als Soldat in der Roten Armee gedient hat.
Schweren Herzens hat Waldemar sein Kulturzentrum inzwischen geräumt. Auf einer Konferenz wollen die Rußlanddeutschen nun darüber beraten, wie man sich in Zukunft vor weiteren Zwangsschließungen retten kann. Um sich von den Strapazen der letzten Wochen zu erholen, ist er mit seinen Kindern zeitweise in den Urlaub auf die Krim gefahren.
Dort will er den Kopf frei kriegen und nachdenken. Mittlerweile kann er sich auch vorstellen, nach Deutschland auszuwandern. Aber zuerst will er noch ein letztes Mal versuchen, sich in seiner Heimat für sein Herzensanliegen einzusetzen – die deutsche Kultur in Rußland bekannt zu machen.