Bei den letzten Meinungsumfragen erreichte die CDU/CSU regelmäßig 45 Prozent, die Sozialdemokraten kamen noch auf 30 Prozent. Die Unionsführung sah die Regierungsübernahme bereits näherrücken, Rot-Grün schien am Ende. Doch die Wirklichkeit entwickelt sich anders, als Parteistrategen planen. Kanzler Gerhard Schröder hat das Heft des Handelns plötzlich wieder in der Hand, die siegessichere Union versinkt in einen Abgrund der inneren Zerstrittenheit. Die Unionsführer Angela Merkel und Edmund Stoiber scheinen sich gerade an der Gesundheitsreform die Zähne auszubeißen. Für altgediente Beobachter kam die Entwicklung nicht überraschend. Schon seit langem monieren viele Abgeordnete, daß die Union ihre Hausaufgaben in der Sachpolitik nicht gemacht hat. Und wo doch Einigungen erzielt und Beschlüsse gefaßt wurden, etwa in der Europapolitik, hatten sie nicht einmal die Haltbarkeitsdauer eines Bechers Joghurt. Frau Merkel laviert und vermeidet Festlegungen. Die CDU-Chefin hat nur ein Ziel: Möglichst vor der nächsten Bundestagswahl 2006 in die Regierung zu kommen (ihr schwebt dabei das Außenministerium vor) und dann als Kanzlerkandidatin die Union in den nächsten Wahlkampf zu führen. Bei der lebhaften Diskussion über Schröders Agenda 2010 und dem Streit der SPD mit den Gewerkschaften fiel kaum auf, daß die Union in Bewegungslosigkeit verharrte. Zwar arbeitete in der CDU die von dem früheren Bundespräsidenten Roman Herzog geleitete Sozialkommission, doch Ergebnisse konnten bisher kaum vorgewiesen werden. Das lag unter anderem an einer Erkrankung Herzogs, aber auch daran, daß die Meinungen, wie die Gesetzliche Krankenversicherung in Zukunft aussehen könnte, weit auseinandergingen. Einig waren sich CDU und CSU nur in der Ablehnung des Vorhabens von Sozialministerin Ulla Schmidt (SPD), das Krankengeld aus dem Leistungskatalog der Kassen herauszunehmen. Alternative Vorschläge waren rar. Stoiber hätte am liebsten gar nichts geändert. Dem CSU-Chef sitzt der bayerische Landtagswahltermin am 21. September im Nacken. Da kam für Stoiber die CDU-Idee, den Zahnersatz aus dem Kassenkatalog zu streichen, höchst ungelegen. Die Maßnahme gilt auch als unpopulär: Der frühere Gesundheitsminister Horst Seehofer hatte bereits im Zusammenhang mit den Sparplänen der letzten Regierung Kohl eine Streichung des Zahnersatzes durchgesetzt. Dies war heftig kritisiert worden. Schröder und die SPD gewannen unter anderem deshalb die Bundestagswahlen 1998, weil sie die These aufstellten, durch die Sparpläne Seehofers werde Armut an fehlenden Zähnen wieder sichtbar. Seehofer, der in der Unionsfraktion als stellvertretender Vorsitzender die Oberhoheit über die Sozialpolitik hat, wollte die Streichung zunächst, redete sich gegenüber seinen Abgeordnetenkollegen von der CDU aber stets mit dem Hinweis heraus, er könne dies gegenüber Stoiber nicht durchsetzen. Merkel und Stoiber haben Führungsdefizite Doch just nachdem Stoiber auf Merkels Kurs eingeschwenkt und plötzlich für die Streichung des Zahnersatzes war, ging Seehofer aus bisher nicht nachvollziehbaren Gründen auf Gegenkurs. Er nannte die Streichung auf einmal unsozial und warf der CDU-Vorsitzenden eine „Last-Minute-Politik“ vor. Das Chaos war komplett. Schröder ließ Sozialministerin Schmidt seine Agenda-Pläne in den Bundestag einbringen, und die rot-grünen Abgeordneten luden Hohn und Spott auf der Union ab. Seehofer meldete sich komplett aus der ganzen Diskussion ab und ließ sich im Bundestag nicht blicken. Auch wenn sich Stoiber, Merkel und Seehofer inzwischen wieder versöhnten und der Ex-Gesundheitsminister jetzt die Verhandlungen mit der rot-grünen Koalition führen soll, ist der Schaden für die Union beträchtlich. Seehofer hat mit seiner Aktion glasklar die Führungsschwächen in der Union herausgearbeitet. Ergebnis: Merkel hat die Fraktion nicht im Griff, und Stoiber scheint ebenfalls Führungsdefizite zu haben. Das ist keine gute Basis für die Gespräche mit Schröder, die Merkel nach den Beratungen der Fachgruppen von SPD und Union demnächst führen soll. Außerdem fehlt es immer noch an abgesicherten eigenen Positionen. Die CDU beschloß zwar auf einer Vorstandsklausur vergangenen Freitag und Samstag in Bad Saarow (Brandenburg) ein gesundheitspolitisches Konzept. Doch das 18seitige Papier strotzt von Vorbehalten. Einer der wenigen klaren Punkte ist die Herausnahme des Zahnersatzes aus dem Kassenkatalog. Bei allen anderen Maßnahmen, etwa der Privatisierung der Unfallversicherung, handelt es sich nur um Prüfaufträge. Und das Papier selbst soll nur eine Beschlußvorlage für den CDU-Bundesparteitag im Dezember sein. Aber Merkel scheint klare Gegenpositionen zur SPD gar nicht gebrauchen zu können und ist offenbar zufrieden, als Zweite durch die Ziellinie zu kommen. Sie setzt auf schnelle Lösungen mit der SPD, auch bei der Steuerreform. In diesem Punkt gab die CDU-Führung auf ihrer Klausur ebenfalls grünes Licht für Verhandlungen mit der SPD, um die dritte Stufe der Reform um ein Jahr vorzuziehen. Dabei hatte der Merkel-Rivale Roland Koch gerade noch erklärt, ein Vorziehen der Steuerreform dürfe auf keiner staatlichen Ebene zu einer neuen Verschuldung führen. Es sei aber utopisch, so der hessische Ministerpräsident, für eine Gegenfinanzierung die notwendigen 18 Millionen Euro Subventionen abzubauen. So liegt der tiefere Sinn des Vorziehens der Steuerreform aus Sicht Merkels wohl auch darin, daß aus der „Großen Kooperation“, die sich jetzt bei Gesundheits- und Steuerreform anzubahnen scheint, im Herbst eine Große Koalition werden könnte. Schröder spielt mit der Union, um Zeit zu gewinnen Einer, der der CDU-Chefin besonders nahesteht, plauderte in vertraulichem Kreis bereits munter drauflos. Während der traditionellen „Nordlichtreise“ für Berliner Journalisten durch Niedersachsen pries der neue Ministerpräsident Christian Wulff die Vorzüge, die der Außenministerposten für Merkel bringen würde. Eine Große Koalition könne die Probleme des Landes lösen, Rot-Grün sei dazu wohl nicht imstande, so der Ministerpräsident. Und Wulff legte nach: Was die Große Koalition an Einschnitten und Kürzungen durchziehe, brauche die Union nach dem Wahlsieg 2006 nicht mehr zu machen. Es ist kaum vorstellbar, daß Wulff sein Reden über die Große Koalition zuvor nicht mit Merkel abgestimmt haben sollte. Für die CDU-Vorsitzende wäre ein Bündnis mit der SPD von unschätzbarem Vorteil: Als Außenministerin wäre sie die natürliche Kanzlerkandidatin für 2006. Ihr Rivale Koch hätte das Nachsehen. Doch die Rechnung der Unionsstrategen muß nicht unbedingt aufgehen. Seit dem Vorpreschen mit der Steuerreform sitzt Schröder wieder in Vorhand. Er spielt jetzt mit der Union, um Zeit zu gewinnen und seine Agenda durch den Bundesrat zu bekommen. Schröder rechnet längst damit, daß die Konjunktur wieder in Fahrt kommt und er die Wahl 2006 aus eigener Kraft gewinnen kann. Die Union stünde dann ziemlich blamiert da.
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