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Die Gier nach Schlagzeilen

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Sommertheater – dieses Wort bekommt für Gerhard Schröder auf einmal einen guten Klang. Die warme Jahreszeit war zu Bonner Zeiten, als Helmut Kohl noch die Republik regierte, gefürchtet. Von Hinterbänklern erfundene Themen entwickelten sich zu Selbstläufern, und die Bonner Republik diskutierte einmal sogar die Frage, ob Mallorca das 17. Bundesland werden könne. Doch in Berlin ist vieles anders. Schröders Medientruppe im Bundespresseamt, angeführt vom ehemaligen Bild-Journalisten Bela Anda, schlachtet jedes noch so kleine Sommerthema für die Zwecke der Regierung aus. Schröders Sommer läuft bisher ausgezeichnet. Seit der unverhofften Kehrtwende des Niedersachsen in Sachen Steuerreform gibt die SPD wieder den Takt an. Schröder hatte ein Vorziehen der dritten Stufe der Steuerreform um ein Jahr von 2005 auf 2004 noch in seine Agenda-Regierungserklärung vom 14. März als unsolide und unfinanzierbar abgelehnt. Doch die Stimmungen im Volk bekommt der Kanzler immer noch gut mit. Die Bürger wollen entlastet werden; für solche Forderungen erhält man als Politiker immer mindestens 70 Prozent Zustimmung. Schon sprang Schröder auf den Zug. Die Union begriff wieder einmal nicht, was eigentlich ablief, und begann sich ernsthaft mit Schröders Vorstoß auseinanderzusetzen – nicht wissend, daß derselbe Schröder, der heute so heftig für die vorgezogene Steuerreform eintritt, morgen das Gegenteil fordern kann. In der Union drischt jeder auf jeden ein Natürlich war die Sache schlecht vorbereitet, denn dicke Schlagzeilen sind die eine Seite des Geschäfts, die Vorbereitung von Sachpolitik aber die andere. Da hatte Schröder seine Hausaufgaben nicht erledigt. Die Gegenfinanzierung, das heißt die Antwort auf die Frage, wie der Staat die auf 18 Millionen Euro taxierten Einnahmeausfälle durch das Vorziehen der Steuerreform schultern könne, war weder von Schröder noch von seinem Finanzminister Hans Eichel ernsthaft geprüft worden. Man dachte im Regierungslager auch gar nicht daran, dies zu tun. Das überließen Schröder und Eichel lieber der Opposition. Dort lehnte sich Hessens Ministerpräsident Roland Koch (CDU) gegen seine Parteichefin Angela Merkel auf und bestand darauf, die Steuerreform nicht durch weitere Staatsschulden zu finanzieren. CSU-Chef Edmund Stoiber drehte und wendete sich, wechselte die Position von Nein auf „Ja, aber“. Schließlich drosch in der Union jeder auf jeden ein: Koch gegen Merkel, Stoiber gegen Koch. Im Kanzleramt lachte man sich ins Fäustchen. Dann kam noch ein Geschenk des Himmels. Ein italienischer Staatssekretär für Tourismus, ein gewisser Stefano Stefani, von dem in Deutschland zuvor niemand etwas vernommen hatte, lästerte in einer Zeitung, die in Deutschland niemand kannte, über die Sorte deutsche Touristen, die selbst hartgesottene Zeitgenossen nur schwer ertragen können. Zuvor hatte sich das deutsch-italienische Verhältnis schon etwas eingetrübt, weil sich ein deutscher SPD-Europaabgeordneter, den bis dahin auch niemand kannte, vom römischen Regierungschef Silvio Berlusconi beleidigt fühlte. Da kamen die Ausfälle des Tourismus-Staatssekretärs dem Kanzler zum richtigen Zeitpunkt vor die Flinte. Die Wirkung der Steuerreform ließ gerade etwas nach, Schröders Leib- und Magenblatt Bild begann erste kritische Fragen nach der Gegenfinanzierung zu stellen. Kein Thema für Schröder, der sofort zur Tat schritt und über die Springer-Gazette und andere Boulevardblätter die italienische Karte spielte. Mehrere Tage rätselte ein Großteil der Bürger hierzulande, ob der Kanzler nun in die Toskana in Urlaub fahren solle oder nicht. Bild und andere Zeitungen brachten große Reportagen über die Toskana und Schröders Sommerurlaub. „Unwichtigere“ Nachrichten, wie die höchste Sommerarbeitslosigkeit seit der deutschen Einheit, fielen unter den Tisch. Für Schröder galt es, wichtigere Entscheidungen zu treffen: Fahre ich nach Italien, oder bleibe ich daheim in Hannover? Alternativen hätte es reichlich gegeben, da sich alle Fremdenverkehrsregionen in Deutschland gegenseitig überboten, den Kanzler in ihre Gefilde zu locken. Aber schließlich zeigte Schröder, da sich der Staatssekretär immer noch nicht entschuldigen wollte, Härte: Er kündigte an, den Urlaub mit Frau und Stieftochter in Hannover verbringen zu wollen. Der italienische Staatssekretär trat dann doch zurück, aber das konnte den harten Gerhard auch nicht mehr erweichen. Die Posse, die in der internationalen Presse allenthalben kommentiert wurde, hat einen ernsten Hintergrund. Sie zeigt – wieder einmal -, daß dieser Kanzler für keinerlei Kontinuität oder Verläßlichkeit steht, sondern ein Spiel mit dumpfen Instinkten treibt. Wenn sich ein italienischer Staatssekretär abfällig über deutsche Touristen äußert, ist das für einen Bundeskanzler noch lange kein Grund, sich in die Sache einzumischen. Da muß ein Regierungschef drüberstehen. Schließlich stört es den Mond auch nicht, wenn ihn ein Dackel ankläfft, heißt es im deutschen Volksmund. Schröders Gier nach Schlagzeilen hat ihn nicht zum ersten Mal die Innenpolitik auf das internationale Parkett heben lassen: Schon im Sommer des letzten Jahres legte er sich in der Irak-Frage gegen die USA fest, um im Wahlkampf den Pazifismus als Thema zu setzen. Seitdem herrscht auf Regierungsebene Eiszeit zwischen Deutschland und seinem wichtigsten Verbündeten. Und nicht vergessen werden sollte in diesem Zusammenhang, wie strikt sich Schröder gegen Österreich stellte, als in Wien die FPÖ in die Regierung kam. Schröder ist immer der lachende Dritte Schröders Inszenierungen sind gelungen. Selten ging es Bild thematisch so gut – und der Bundesrepublik so schlecht. Der deutsch-italienische Tourismus-Krieg war, Schröder mag das bedauert haben, nach wenigen Tagen wieder vorbei, weil das Interesse an diesen politischen Kurzläufern schnell erlahmt. Und was macht Schröder? Er holt die Steuerreform wieder hervor und kündigt zur Überraschung seines eigenen Finanzministers detaillierte Finanzierungsvorschläge an. Die Reaktion der Opposition war wie von Schröder erwartet: Koch vertrat sofort wieder seine Gegenposition zu Merkel, CSU-Ministerpräsident Stoiber sah durch den Streit in der CDU seine Wahlchancen in Bayern gefährdet. Und Schröder war wieder der lachende Dritte. Das Sommertheater hat seinen Vorhang geöffnet. Regisseur Schröder sorgt für ständig neue Inszenierungen. Doch trotz des hohen Unterhaltungswertes sollte eines nicht vergessen werden: Seit der Bundestagswahl vom 22. September hat der Kanzler nicht eine wichtige Reform auf den Weg gebracht, sondern nur Theater gespielt. Wenn sich der Vorhang einmal schließt, wird es für die Deutschen ein böses Erwachen geben. Foto: Bundeskanzler Schröder beim Tennis im Sommerurlaub in Pesaro (2001): Spiel mit dumpfen Instinkten

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Marc Jongen, ESN Fraktion
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