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Über den Schriftsteller Erich Kästner: Triumph des Zeitgeists

Über den Schriftsteller Erich Kästner: Triumph des Zeitgeists

Über den Schriftsteller Erich Kästner: Triumph des Zeitgeists

Der Schriftsteller Erich Kästner betrachtet die Bronze-Büste seines Ebenbildes in der bayerischen Staatsgalerie in München 1959: : Kann er dem Zeitgeist standhalten?
Der Schriftsteller Erich Kästner betrachtet die Bronze-Büste seines Ebenbildes in der bayerischen Staatsgalerie in München 1959: : Kann er dem Zeitgeist standhalten?
Der Schriftsteller Erich Kästner betrachtet die Bronze-Büste seines Ebenbildes in der bayerischen Staatsgalerie in München 1959 Foto: picture-alliance / dpa | Goebel
Über den Schriftsteller Erich Kästner
 

Triumph des Zeitgeists

Der Journalist Tobias Lehmkuhl hat eine Abhandlung zu Erich Kästner während des Dritten Reichs vorgelegt. Nach einer neuen und originellen Sichtweise auf den Schriftsteller sucht man vergeblich. Dafür gibt es Kurzschlüsse und Wertungen. Doch die zeitgeist-typischen Mängel werden schon für eine wohlwollende Aufnahme des Buches hierzulande sorgen.
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Mal wieder eine Studie über „Kästner im Dritten Reich“. Sie stammt von dem Journalisten Tobias Lehmkuhl, dessen biographische Neigung sich bislang auf die Popikone Nico beschränkte. Nun stürzte er sich auf das weithin abgeweidete Thema, was eigentlich neu entdecktes Material oder eine originelle Perspektive voraussetzt. An beidem fehlt es. Nirgends erfahren wir wirklich Neues über Kästners Leben. Vielmehr verstärkt sich bei fortschreitender Lektüre der Eindruck, der Stoff werde künstlich gestreckt, um ein Buch auf 300 Seiten zu längen.

Diese füllen sich mit Extrakten ausgewählter Sekundärliteratur sowie (dysfunktionalen) Exkursen, wonach etwa Kästners Ausbombung mit Adornos „Asyl für Obdachlose“ und Tergits „Käsebier“-Roman vermengt wird. Sodann kompiliert er etliches zu Personen, mit denen Kästner irgendwie zu tun hatte beziehungsweise – schlimmer noch – die er gekannt haben könnte. Solche Spekulationen im Dutzend (was Kästner dachte, nicht dachte, was hätte geschehen können oder man sich vorstellen könne) münden gar in erfundenen Dialogen.

Mit ähnlichem Methodenverständnis werden Fotos gedeutet oder Quellen wie das lakonische Tagebuch interpretiert, als enthalte es durchweg Klartext. Dessen spätere Bearbeitung wiederum gilt Lehmkuhl auf der Basis früherer Vorwürfe als „massiv und verzerrend“, was die eigene Auslegungskunst nicht eben plausibilisiert.

Wichtiger wäre ein Schwerpunkt auf der Nachkriegszeit

In diesem Sammelsurium von schlecht verleimtem Angelesenem darf natürlich als voyeuristischer Evergreen auch ein Kapitel „Kästner und die Frauen“ nicht fehlen. Indiskret hervorgezerrte Muttchen-Briefe verleiten dabei zu politisch „korrekten“ Schlüssen über Kästners psychische Defizite. Allerdings relativiert die aktuelle Norm solche selbstgewissen Urteile ein wenig. Denn belegen nicht allein 54,8 Prozent Münchner Single-Haushalte und 82 Prozent Kinderlose just die gleiche bei Kästner monierte hedonistische Bindungsschwäche?

Ausgiebig wird Kästners sattsam bekannte Vorgeschichte in der Weimarer Republik erörtert. Wichtiger wäre ein solcher Schwerpunkt auf der Nachkriegszeit. Denn im Wirken ab dem 8. Mai 1945 zeigt sich die Quintessenz seiner Erlebnisse im Dritten Reich. Das darüber Formulierte ist jedoch bedauernswert dürftig. Zudem lese man Kästners damalige Texte (zum Beispiel zum Nürnberger Prozeß) besser im Original. Denn Lehmkuhls Auslegungen verwirren eher angesichts seiner fixen Idee, der Autor habe sich durch NS-Sprache kontaminiert. Die Rezeption eines wirklichen Kenners wie Dirk Walter hätte ihm gutgetan. Besonders dessen Aufsatz im Zuckmayer-Jahrbuch 2004 über Kästners verdienstvolle Kulturarbeit nach 1945, der mehr Forschungssubstanz enthält als Lehmkuhls kompletter Band.

Eine neue Sichtweise sucht man vergebens. Denn die Deutungs- und Wertungsprämissen in Sachen Kästner sind längst implantiert, seit Germanisten wie Helmut Lethen (fußend auf Walter Benjamins üblem Verriß), Marianne Bäumler, Dieter Mank, Andreas Drouve, Sven Hanuschek, Hermann Kurzke oder Seiteneinsteiger wie Anatol Regnier sich für berufen hielten, den Daumen zu senken. Während der Schriftsteller nach wie vor gelesen wird, formierte sich seit den frühen 1970ern eine schlagbereite Kritikerphalanx. Sie argumentierte wechselweise marxistisch, psychoanalytisch, feministisch oder schlicht selbstgerecht, weil Kästner aus der bequemen Rückschau nicht ihren hagiographischen Ansprüchen eines antifaschistischen Bilderbuchhelden entsprach.

Bigotte Moralurteile von Spruchkammer-Juroren

Ohnehin stand dieser Klassiker der Neuen Sachlichkeit nie auf einem philologischen Denkmalsockel wie (zeitweise) Bertolt Brecht, Thomas Mann, Günter Grass oder Heinrich Böll. Und wenn Lehmkuhl mutmaßt, Marianne Bäumlers ideologisch verbissene Kästner-Schelte von 1984 sei übergangen worden, weil es bis heute „nicht opportun ist, Kästner und sein Werk in Zweifel zu ziehen“ oder die Dissertation „von einer Frau geschrieben wurde“, lebt er in einer Wahnwelt, die die längst gewandelte akademische Praxis ignoriert.

Wie aber hätte sich eine neue Perspektive denn gezeigt? Im Verzicht auf bigotte Moralurteile und Attitüden von Spruchkammer-Juroren. Daß ein notorischer Regimegegner erwartbaren Repressalien zum Trotz im Lande blieb, war nicht fragwürdig, sondern verdient Respekt. Auch sollten sich Biographen stets bewußt sein, unter welchen Zwängen sich Kästners Berufsexistenz vollzog, statt sich durch Relativierung seines Schreibverbots als bundesrepublikanischer Besserwisser zu outen.

Imponiert es doch eher, wie einfallsreich und riskant er zuweilen die Reichsschrifttumskammer düpierte und wie viele mutige Freunde ihm durch Fingierung eigener Autorschaft dabei halfen. Auch daß Kästners Rechtsanwalt, um sein Schreibverbot anzufechten, regimefromme Floskeln verwandte, braucht heutige Pharisäer nicht zu echauffieren. Denn der Zensur gegenüber ist alles erlaubt. Wer hier von „Verrat an den Idealen und an alten Freunden“ faselt, nenne wenigstens eine Zeile, in der sich Kästner öffentlich für die Nazis erklärt hätte.

Kurzschlüsse und Wertungen sind das eigentliche Ärgernis

Jede Wertung orientiere sich am relativ „Normalen“, das heißt sozial Üblichen, angefangen bei der heute nicht weniger verbreiteten Konformität unserer Kulturschaffenden. Der klischeehafte Kontrast des idealen Exilanten zum feige angepaßten Daheimgebliebenen unterblfeibe zugunsten der realistischen Diagnose, wieviel „Dreck“ auch die verklärten Emigranten zum Überleben gefressen haben: die Brecht, Anna Seghers, Irmgard Keun, Heinrich Mann und viele andere.

Statt zu betonen, was der Autor alles versäumt habe, rufe man wieder ins Gedächtnis, was er richtig und gut machte. Dürrenmatt etwa lobte „Drei Männer im Schnee“ als Musterbeispiel der hierzulande unterschätzten humoristischen „Kunst des Leichten“, noch dazu im „Griff der Gewalt“. Kästners Münchhausen-Drehbuch mit einiger ideologischer Konterbande wurde international gewürdigt. Zu erörtern, ob der Film durch zwei Stunden Ablenkung dazu beitrug „den Krieg am Laufen zu halten“, verrät eifernde Engstirnigkeit. Die Zeit-Herausgeberin Marion Gräfin Dönhoff klassifizierte dergleichen seinerzeit als gleichfalls „totalitär“.

Überhaupt sind Kurzschlüsse und Wertungen das eigentliche Ärgernis des Buchs. Zwar entzieht Lehmkuhl seinem Protagonisten nicht jegliche Anerkennung. Dennoch fällt er immer wieder hanebüchene Urteile über dessen vermeintliches Mitläufertum oder Verdrängungen zur Erleichterung des Nachkriegsgewissens. Heldenhaft sei sein Bleiben in Deutschland nicht. Eher habe Kästner für sich beschlossen, „daß es Heldentum nicht mehr gibt und man sich gar nicht erst darum bemühen muß“.

Welle des Zeitgeistes

Manche Bezüge Lehmkuhls zum Dritten Reich zeigen schlicht Obsessives. So wenn die Zwillinge im „Doppelten Lottchen“ mit Josef Mengeles grausamen Zwillingsexperimenten in Auschwitz verbunden werden oder die Lidice-Massaker mit Kästners Aufenthalt am Wolfgangsee. Ein Filmfoto mit Luis Trenker entlockt den Kommentar: „Sieht so ein verfemter Autor aus?“

Auch tendiert der Verfasser zu maliziösen Auslegungen. Kästners wie bewußt auch immer unterlassenes Anführungszeichen bei „Terrorangriff“ der RAF entfesselt verbissene Analysen, ob er mit dem „Propagandawort“ auch „das Gedankengut der Nazis“ übernommen habe. In Kästners Polemik gegen Thomas Mann, der als verbaler Berserker in kalifornischer Ferne auf die geschlagenen Deutschen und ihre Buchproduktion von 1933 bis 1945 eingeprügelt hatte, sieht er NS-Stereotype am Werk: die Übernahme dessen, „was die Nazis als lebensunwertes Leben bezeichnet hätten“, „Holocaust-Attribute“ bzw. „Elemente der ‘Lingua Tertii Imperii’“. Eine denunziatorische Auslegung an der Grenze zur Infamie.

Kurz: Das Buch verfügt über so viele zeitgeist-typische Mängel, daß man ihm hierzulande eine wohlwollende Aufnahme vorhersagen darf.

JF 2/24

Der Schriftsteller Erich Kästner betrachtet die Bronze-Büste seines Ebenbildes in der bayerischen Staatsgalerie in München 1959 Foto: picture-alliance / dpa | Goebel
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