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Meinungsfreiheit: „Cancel Culture“: Eine Art Rache kleiner Geister

Meinungsfreiheit: „Cancel Culture“: Eine Art Rache kleiner Geister

Meinungsfreiheit: „Cancel Culture“: Eine Art Rache kleiner Geister

Antiquarische Ausgaben von Pippi Langstrumpf: Selbst Kinderbuch-Klassiker unterliegen heutzutage der sogenannten Cancel Culture
Antiquarische Ausgaben von Pippi Langstrumpf: Selbst Kinderbuch-Klassiker unterliegen heutzutage der sogenannten Cancel Culture
Antiquarische Ausgaben von „Pippi Langstrumpf“: Selbst Kinderbuch-Klassiker unterliegen heutzutage der sogenannten Cancel Culture Foto: picture alliance / Franz-Peter Tschauner
Meinungsfreiheit
 

„Cancel Culture“: Eine Art Rache kleiner Geister

Ist „Cancel Culture“, also der Ausschluß von unliebsamen Meinungen, ein notwendiger Schritt im Kampf gegen Diskriminierung? Oder wird damit vielmehr die Axt an die Wurzel der Freiheit des Wortes, von Kunst und Wissenschaft gelegt? Ein Sammelband zu diesem hegemonialen Diskurs legt unfreiwillig die Motive frei.
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In dem vorliegenden Sammelband tragen Kritiker und Verteidiger der „Cancel Culture“ einen Streit aus, der von den Herausgebern als „notwendig“ bezeichnet wird. Mit dieser Formulierung wird zumindest implizit der Praxis des Cancelns eine gewisse Berechtigung eingeräumt – ein Eindruck, der sich bei der Lektüre dieses Buches bestätigt.

Die Herausgeber beziehen sich in ihrem Vorwort zwar ausschließlich auf das Canceln von Literatur, doch wird in den folgenden Aufsätzen mehr als deutlich, daß dieses Phänomen auch viele andere Bereiche betrifft: Musik, Theater, die bildenden Künste, Wissenschaft, den öffentlichen Raum in Gestalt von Denkmälern und Straßennamen und natürlich die Politik. Da sowohl die Herausgeber als auch die Autoren keine Definition des Cancelns liefern, will der Rezensent an dieser Stelle selbst versuchen, diesen sehr vagen und amorphen Begriff zu klären.

Es geht beim Canceln immer darum, Positionen oder Formulierungen, die als nicht mehr zeitgemäß, anstößig oder politisch unkorrekt angesehen werden, aus der Öffentlichkeit zu verbannen; mitunter sind davon auch die Personen selbst betroffen, die solche Positionen vertreten bzw. Formulierungen gebrauchen. Im Extremfall kann man auch dann gecancelt werden, wenn man sich nichts Derartiges zuschulden hat kommen lassen, sondern nur als Person bestimmte Eigenschaften aufweist.

Beispielsweise wird gefordert, daß weiße Männer nicht das Gedicht einer schwarzen Frau übersetzen dürften (wie im Fall von Amanda Gorman, den Daniela Strigl schildert). Oder Kulturschaffenden werden ihre Engagements gekündigt, nur weil sie Russen sind; die Russophobie kann sogar so weit gehen, daß Sinfonien von Tschaikowsky als „unhörbar und unspielbar“ und Romane von Dostojewski als „unlesbar“ verdammt werden. Diese Auswüchse der „Cancel Culture“ werden vom Philosophen Konrad Paul Liessmann kritisiert.

Zensur meistens „privat“ und nicht staatlich verordnet

In den meisten Fällen kommt der Anstoß zum Canceln „von unten“, also aus dem Publikum oder den Reihen der Künstler bzw. Wissenschaftler selbst. Deshalb ist die Zensur meistens „privat“ und nicht staatlich verordnet, wenngleich staatliche Stellen nur zu oft dann Hilfestellung leisten, wenn es um Veranstaltungen an Universitäten oder die Umbenennung von Straßennamen geht.

Neben den beiden schon genannten Autoren haben sich zehn weitere zusammengefunden, um ihre Sicht auf das Phänomen des Cancelns zu präsentieren. Bei ihnen handelt es sich überwiegend um Journalisten, daneben sind auch einige Geisteswissenschaftler vertreten. Auffallend ist, daß kein vom Canceln Betroffener zu Wort kommt. Die Autoren befleißigen sich in ihrer Mehrzahl des Genderns und verwenden häufig Sternchen, um als anstößig empfundene Begriffe nicht ausschreiben zu müssen. Dies geht zuweilen auf Kosten der Textverständlichkeit. Zwar dürfte jedem Leser klar sein, daß mit „N*“ das Wort „Neger“ gemeint ist, aber was sich hinter „f*“ verbirgt, erschließt sich wohl nur dem ausgesprochen sprachsensiblen Leser.

Wer vom Stil auf den Inhalt schließt, liegt nicht falsch: Die überwiegende Mehrheit der Autoren zeigt viel Verständnis für das Canceln und dessen Protagonisten. Zum Teil wird das Canceln als nicht so schlimm und die Kritik daran als zumindest teilweise übertrieben angesehen (Mithu Sanyal, Johannes Schneider); zum Teil wird es nicht grundsätzlich, sondern nur in bestimmten Fällen in Frage gestellt (Jürgen Kaube, Lothar Müller); zum Teil wird es als notwendig und gerechtfertigt bezeichnet (Asal Dardan, Hanna Engelmeier). Der Zeit-Redakteurin Anna-Lena Scholz gelingt es sogar, die Cancel Culture in der Wissenschaft nicht etwa als eine Bedrohung der akademischen Freiheit zu sehen, sondern als ein Zeichen „für ein dringendes Interesse daran, daß sie gelten möge“, zu interpretieren.

Die Liste der zu bereinigenden Autoren wird länger

Asal Dardan / Adrian Daub / Hanna Engelmeier / Jürgen Kaube / Konrad Paul Liessmann: Cancel Culture. Ein notwendiger Streit; Jetzt im JF-Buchdienst bestellen. >>

Daß die betroffenen Wissenschaftler diese Meinung nicht teilen, hat nicht zuletzt die 2021 erfolgte Gründung des „Netzwerks Wissenschaftsfreiheit“ gezeigt. Eindeutig und unmißverständlich kritisch äußert sich vor allem der Philosoph Konrad Paul Liessmann, der in der Cancel Culture einen Angriff auf die Errungenschaften der Aufklärung und „auf die Idee von Kultur überhaupt“ sowie eine Schwächung der Vernunft sieht. Folglich sei schon den Anfängen entschieden zu wehren.

Beschwichtigungsversuche (wie etwa von Johannes Schneider) mit dem Hinweis darauf, daß es sich ja nicht um staatliche Zensur handele und daß beispielsweise die inkriminierten Bücher noch „ungereinigt“ erhältlich seien (wenngleich nur antiquarisch), werden dem Ernst der Lage nicht gerecht. Denn wenn man sich einmal auf das Canceln eingelassen hat, wird es kaum bei den Anfängen bleiben. Das erkennt man schon an der immer länger werdenden Liste von Autoren, deren Werke schon gereinigt wurden oder noch gereinigt werden sollen.

Allein im vorliegenden Band geht es um so unterschiedliche Autoren wie Astrid Lindgren, Enid Blyton, Michael Ende, Karl May, J.K. Rowling, Mark Twain, Heinrich von Kleist, William Shakespeare und Immanuel Kant. Diese Liste ließe sich problemlos verlängern, etwa um Namen wie Roald Dahl oder Ian Fleming.

Wer hat das Recht zu entscheiden, wer gecancelt wird?

Nicht nur quantitativ, auch qualitativ gibt es keine Grenze: Wenn heute vermeintlich rassistische oder misogyne Formulierungen getilgt werden, sind es morgen vielleicht schon konservative oder „rechte“ Äußerungen. Zudem stellt sich die Frage, woher Sprachpolizisten das Recht nehmen, darüber zu entscheiden, was oder wer gecancelt wird, also was dem Publikum zugemutet werden darf – und was nicht.

Jedenfalls erscheint es in der aktuellen Situation verfrüht, mit Ijoma Mangold „den Kulturkampf um die Cancel Culture“ für beendet zu erklären, nur weil dieses Phänomen und die dahinterstehende Geisteshaltung jetzt mit einem Begriff (nämlich eben dem der Cancel Culture) benannt werden kann. Daß der „hegemoniale Diskurs“ der Protagonisten der Cancel Culture als solcher erkannt, benannt und kritisiert wird, ist gewiß ein hoffnungsvolles Zeichen, aber nur der erste Schritt auf dem Weg zurück zur Meinungs-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit.

Dieser Kulturkampf hat gerade erst begonnen. Das zeigen nicht zuletzt diejenigen Beiträge in diesem Band, die sich zur Cancel Culture bekennen. Gerade diese Beiträge sind auch und vor allem für erklärte Gegner jedes Cancelns eine lohnende Lektüre – geben sie doch Aufschluß über die Motive der Protagonisten der Cancel Culture. Und diese Motive gilt es zu verstehen, wenn man in dem erwähnten Kulturkampf obsiegen will.

Identitätspolitik als Waffe im Verteilungskampf

Einen prominenten Platz unter diesen Motiven nimmt der moralische Dünkel ein, anderen vorschreiben zu wollen, was sie lesen dürfen – und was nicht. Am deutlichsten äußert sich diesbezüglich Asal Dardan, die der Meinung ist, daß anständige Menschen heute Bücher wie „Jim Knopf“ ohnehin nicht mehr lesen wollten. Zwischen den Zeilen kann man unschwer herauslesen, daß die anderen, die Nichtanständigen, solche Bücher nicht mehr lesen sollten, wofür die Anständigen zu sorgen hätten. Nur auf diese Weise könne man Kindern die „Belastung“ durch bestimmte Wörter ersparen und sie vor „Stereotypen“ schützen (wie Asal Dardan sie in diesem Buch von Michael Ende aufgespürt hat).

Inwieweit bei diesem Streben nach dem Schutz anderer eine Portion larmoyantes Selbstmitleid wegen eingebildeter oder tatsächlich selbst erfahrener Kränkungen und das Bestreben nach Vergeltung derselben mitschwingt, sei dahingestellt. Dahingestellt sei auch, ob es pädagogisch überhaupt sinnvoll ist, Kinder in Watte zu packen und sie vor allen möglichen negativen Erfahrungen zu bewahren – oder ob man sie mit den Realitäten der Welt konfrontieren und ihnen bei der Verarbeitung derselben zur Seite stehen sollte.

Mißgunst im Gewand politisch wacher Besorgnis

Zweitens mag es sich beim Canceln auch zum Teil um eine Art Rache kleiner Geister handeln. Derjenige, dessen intellektuelle und künstlerische Fähigkeiten nicht ausreichen, Werke vom Rang der Novellen Kleists zu erschaffen, kann sich trotzdem in einem gewissen Gefühl der Überlegenheit sonnen, wenn er diese Werke als anstößig und unzeitgemäß verurteilt – oder sie vielleicht sogar politisch korrekt „nachdichtet“. Letzteres wird von Hanna Engelmeier am Beispiel der „Nachdichtung“ zweier Novellen von Kleist durch Dorothee Elmiger ausdrücklich gelobt.

Und schließlich spielen auch handfeste ökonomische Interessen eine Rolle, vor allem dann, wenn es um identitätspolitisch motiviertes Canceln geht. Darauf weist Daniela Strigl hin, wenn sie die Forderung kritisiert, daß der Übersetzer eines literarischen Werkes dieselbe Identität wie dessen Autor haben müsse: „Dabei erscheinen Konkurrenzdenken und Mißgunst im Gewand politisch wacher Besorgnis. Identitätspolitische Vorwürfe dienen als Waffe in einem Verteilungskampf, der ab nun nach anderen Regeln verläuft.“

Nach Meinung von Konrad Paul Liessmann ist die Cancel Culture überhaupt durch wenig edle Motive gekennzeichnet. Denn bei dieser handele es sich letztlich „um die Artikulation und Durchsetzung von Machtansprüchen.“ Deswegen würde sich „Cancel Culture nur allzu oft als Ressentiment im hehren Gewande der Moral erweisen, selbstgefällig und denkfaul, aber machtbewußt.“ Die Protagonisten und Apologeten dieser „Kultur“, welche man besser als Unkultur bezeichnen sollte, werden sich deshalb auch folgender Erkenntnis von Oscar Wilde verschließen: „Es gibt weder moralische noch unmoralische Bücher. Bücher sind gut oder schlecht geschrieben, sonst nichts.“

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Prof. Dr. Fritz Söllner lehrt Volkswirtschaftslehre an der Technischen Universität Ilmenau und ist Mitglied im „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit e. V.“

Annika Domainko, Tobias Heyl, Florian Kessler, Georg Oswald, Jo Lendle (Hrsg.): Canceln. Ein notwendiger Streit. Carl Hanser Verlag, München 2023, gebunden, 224 Seiten, 22 Euro.

JF 20/23 

Antiquarische Ausgaben von „Pippi Langstrumpf“: Selbst Kinderbuch-Klassiker unterliegen heutzutage der sogenannten Cancel Culture Foto: picture alliance / Franz-Peter Tschauner
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