Ökonom, Finanzpolitiker, Haushaltssanierer, Bundesbankdirektor und seit seinem 65. Lebensjahr Bestsellerautor: Thilo Sarrazin ist eine Institution für sich. Seit er vor zwölf Jahren mit „Deutschland schafft sich ab“ die erstarrende Merkel-Republik aufgerüttelt hatte, legt er mit unerschütterlicher Präzision alle zwei Jahren einen durchdachten und faktensatten Debattenbeitrag vor – zu Euro-Desaster und Tugendterror, Regierungsversagen und Islamisierung, Migration und Demographie.
„Die Vernunft und ihre Feinde“ ist das nunmehr siebte Buch in dieser Reihe – und wohl auch sein persönlichstes. Thilo Sarrazin gewährt in seiner Auseinandersetzung mit den „Irrtümern und Illusionen ideologischen Denkens“ in aller preußischen Zurückhaltung zugleich einen Einblick in sein Leben, seinen Werdegang und sein Denken als Wissenschaftler und Politiker. Und er zieht einen Schlußstrich unter seine Entfremdung von der SPD, in die der Ökonom Thilo Sarrazin als überzeugter Marktwirtschaftler und Antikommunist im November 1973 eingetreten war und die sein unabhängiges Denken heute nicht mehr ertragen will.
Denn inzwischen haben die „Ideologen der Gleichheit“ die SPD, und nicht nur diese, übernommen. Die Auseinandersetzung mit der ideologisch verzerrten Denkweise dieser „Feinde der Vernunft“ gab Sarrazin – er spricht sarkastisch vom „geistigen Ertrag“ des Parteiausschlußverfahrens – den Anstoß zu seinem neuesten Buch.
Ideologisches Denken ist für Sarrazin „falsches Denken“
Karl Popper ist Sarrazins geistiger Leitstern. Ohne Herrschaft des Gesetzes, Sicherheit des Eigentums und demokratische Ordnung mit wirksamer Kontrolle politischer Macht gibt es keine offene Gesellschaft. Sarrazin räumt mit einem verbreiteten Mißbrauch des Begriffs auf: Die offene Gesellschaft setzt die Achtung der Rechte und Entscheidungsfreiheit des einzelnen voraus. Die Hinnahme kollektivistischer Machtansprüche wie des Kopftuch-Dogmas der Islamverbände ist daher kein Zeichen einer „offenen Gesellschaft“, sondern ein Angriff auf sie.
Autoritäre Regime und Ideologen, seien sie religiös oder politisch-marxistisch motiviert, streben „geschlossene Gesellschaften“ an, von Popper als „magische, stammesgebundene oder kollektivistische Gesellschaft“ definiert. Ideologisches Denken ist für Sarrazin „falsches Denken“, es hemmt den Erkenntnisfortschritt und gefährdet die offene Gesellschaft.
Von diesem Standpunkt aus rechnet Sarrazin mit den ideologischen Gefahren der Gegenwart ab: Politische Korrektheit, „Cancel Culture“, Genderismus, der „Schuldkult“ des Postkolonialismus, der konstruierte Vorwurf des „kulturellen Rassismus“. All diese Ideologeme zielen darauf, reale Unterschiede zwischen Menschengruppen wegzudefinieren und Sündenböcke – bevorzugt den „alten weißen Mann“ – an den Pranger zu stellen, wo die Fakten nicht geleugnet werden können.
Sarrazin trägt die Fackel der Aufklärung
Ideologien spalten in „Gut“ und „Böse“, sie interpretieren gesellschaftliche Entwicklung als dualistischen Kampf und enthalten ein utopisches Heilsversprechen, dessen Kernaussagen nicht verifiziert werden können. Letztlich variieren Genderismus, Antikolonialismus, Antirassismus ebenso wie der Konstruktivismus, der alles in „Diskurse“ auflöst, somit nur ein altbekanntes Muster marxistischen Denkens.
Sarrazin hält dagegen die Fackel der Aufklärung und der Naturwissenschaft hoch: Es gibt nur zwei Geschlechter – für diese simple Tatsache ruft er auch die Feministin Simone de Beauvoir in den Zeugenstand. Geistige Eigenschaften des Menschen sind zu einem großen Teil erblich; kulturelle und religiöse Prägung beeinflussen den Erfolg von Gesellschaften und Individuen; und es ist nicht gleichgültig für die Zukunft von Gesellschaften und Nationen, wer die Kinder bekommt und wie viele.
„Multikulturalismus“ ist für Sarrazin kein wirklicher Pluralismus, weil er Kollektivrechte über das Individuum stellt. Die Länder des Westens haben „das moralische Recht, jedwede illegale Einwanderung zu unterbinden und alle illegalen Einwanderer, denen kein politisches Asyl gewährt wird, auch gegen ihren Willen wieder in ihre Heimatländer zu verbringen“.
Sarrazin hält nichts von Fatalismus
Dem „universalistischen“ Programm der „Ampel“-Koalition, das Energiewende und Weltrettung vor dem „Klimawandel“ absolute Priorität einräumt, einen europäischen Bundesstaat anstrebt und die Grenzen „für mehr kulturfremde, außereuropäische Einwanderung“ öffnen will, bescheinigt Sarrazin in einer vernichtenden Analyse eine unheilvolle „ideologische Prägung“ und attackiert den Verfassungsschutz, der das Benennen von Fakten bereits als „rechtsextrem“ diffamiert, gleich mit.
Von geschichtsphilosophischem Fatalismus hält Sarrazin wenig; Überalterung, Bildungsverfall, ethnische und kulturelle Entfremdung und der Verlust technischer, produktiver und wissenschaftlicher Vorsprünge stimmen ihn für die Perspektiven Deutschlands dennoch pessimistisch. Wie Sysiphos müsse man wieder „Inseln der Rationalität“ schaffen, nachdem eine Gesellschaft dem „irrationalen Wahn“ verfallen ist.